Sollte der Liberalismus in der Schweiz über ein intellektuelles Hauptquartier verfügen, vielleicht könnte man es in Wipkingen verorten, einem ruhigen Zürcher Quartier. Hier residiert Avenir Suisse. Think-Tank nennt sich die Organisation, die 2001 von führenden Schweizer Unternehmen, darunter Nestlé, Credit Suisse, Novartis und Roche, ins Leben gerufen wurde. Darüber nachdenken, was der Schweiz wirtschaftlich nützen könnte und die eigenen Ideen unter die Leute bringen, darin sieht Avenir Suisse ihre Aufgabe. Gerhard Schwarz, 64, ist hier seit 2010 Direktor. Davor war er 29 Jahre lang Wirtschaftschef der Neuen Zürcher Zeitung. Ende März tritt Schwarz von seinem Posten zurück. Eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie es um die Wirkmächtigkeit liberaler Ideen in der Schweiz bestellt ist. – Lichtdurchflutet ist der geräumige Besprechungsraum, in dem wir Platz nehmen, durch grosse Fenster geht der Blick hinaus auf einen Garten mit Obstbäumen. An einem sonnigen Tag kann man hier kaum anders, als in aufgeräumte Stimmung zu verfallen.
BaZ: Herr Schwarz, als liberal bezeichnen sich heutzutage viele Leute. Bei manchen hat man den Eindruck, sie wollten damit vor allem eine politische Festlegung vermeiden. Taugt der Begriff überhaupt noch etwas?
Gerhard Schwarz: Man könnte ja sagen, dass eben dies ein Zeichen für die Attraktivität des Begriffs ist: Er wird von allen möglichen Seiten usurpiert. So einen schlechten Klang scheint er nicht zu haben. Das Wort «Liberalismus» bringt klar zum Ausdruck, dass die Freiheit der wichtigste Wert in einer solchen Ordnung ist. Aber Sie haben recht: Es ist eine unglaubliche Beliebigkeit in den Begriff hineingekommen oder hineingelegt worden. Man muss immer sagen, was man genau meint, wenn man «liberal» sagt. Ich persönlich spreche daher gerne von einer «Privatrechtsgesellschaft », denn freie Verträge unter Privaten sind ein wesentliches Element einer liberalen Ordnung.
Vielen scheint der Begriff auch Unbehagen zu bereiten. Sie fühlen sich dann bemüssigt, ihm noch etwas voranzustellen oder folgen zu lassen.
Solche Bindestrich-Liberalismen sind ein Ärgernis. Es gibt nicht «links-», «rechts-», «sozial-» oder «wirtschaftsliberal». Entweder man ist liberal oder man ist es nicht. Aber es hat natürlich auch niemand ein Monopol auf die Definition. Ich habe meine Vorstellung von Liberalismus, andere Leute haben andere Vorstellungen.
Um Missverständnisse auszuschliessen, könnten Sie ja den linken Kampfbegriff «neoliberal» für sich adaptieren.
Dieser Begriff war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch unbelastet. Ich würde mich gerne einen Neoliberalen nennen, aber mittlerweile ist «Neoliberalismus» so umgedeutet worden, dass die Leute mich fälschlicherweise für einen Radikalliberalen halten würden. Dabei war der Neoliberalismus historisch eine Absage an das Laissez-faire, er hat den Staat bejaht, aber eben einen Staat, der nicht ständig interveniert, sondern Rahmenbedingungen setzt. Diese Neoliberalen wollten vor allem mithilfe einer strengen Wettbewerbspolitik die Entstehung von Monopolen verhindern. Das ist zwar eine staatliche Intervention, aber eine, die mit einer liberalen Ordnung vereinbar ist.
Wenn so viele liberal sein wollen, müsste es um die Idee der Freiheit ja bestens bestellt sein.
Dem ist leider nicht so. Durch das Ende des Kalten Krieges und den damit verbundenen Wegfall des ideologischen Gegenpols ist die Wertschätzung der Freiheit in den Staaten des alten Westens zurückgegangen. Der Ungarn-Aufstand 1956 oder die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 waren Momente, in denen den Leuten im Westen bewusst wurde, wie wichtig Freiheit ist. Heute dagegen ist Freiheit selbstverständlich geworden. Dass sie schleichend eingeengt wird, bemerken die meisten gar nicht.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk meint, wir Westeuropäer lebten im «Semi-Sozialismus». Hat er recht?
«Semi-Sozialismus» finde ich einen schönen Begriff für die heutige Wirklichkeit. Wir leben nicht in einer freien Marktwirtschaft oder einem bösen Laissez-faire-Kapitalismus. Der Bereich, in dem die Märkte frei spielen, macht nur einen kleinen Teil aus und wird angesichts fortschreitender Regulierung immer kleiner.
In der Schweiz war der Liberalismus immer stärker als anderswo in Europa. Seine ideelle Heimat hatte er auch in der FDP. Wird die Partei ihrem Erbe gerecht?
In ihren Gründerjahren im 19. Jahrhundert hatte die FDP ein fast schon revolutionär liberales Programm, mit dem sie sich in ganz Europa allein auf weiter Flur befand. Mit diesem Programm wurde sie zur staatstragenden Partei. Der Liberalismus ist staatsskeptisch, die FDP musste also zugleich staatstragend und staatsskeptisch sein. Lange ist diese Gratwanderung gut gelungen. Mit dem Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» ist die FDP in den Achtzigerjahren auf die richtige Seite gekippt, danach leider auf die falsche. Grüne und feministische Ideen kamen hinzu, die FDP wollte wieder eine Volkspartei sein, wie sie es in ihren besten Jahren gewesen war. Aber Liberalismus ist ein Minderheitenprogramm, mit dem Sie vielleicht fünfzehn Prozent der Leute erreichen. In den Neunzigerjahren verzichtete die FDP immer mehr auf ein konzises Profil, sie wollte es, ein wenig wie heute Frau Merkel, allen recht machen. Das geht nicht – und es war auch nicht erfolgreich.
Verglichen mit ihren Nachbarländern ist die Schweiz ja noch immer liberal, gleichzeitig geht es relativ breiten Bevölkerungsschichten wirtschaftlich gut. Warum hat der Liberalismus dennoch so einen schlechten Leumund?
Die Finanzkrise hat dem Ruf einer liberalen Ordnung enorm geschadet, wenn auch zu Unrecht. Zudem ist vielen von uns nicht bewusst, wo die Quellen unseres Wohlstands liegen. Es ist wie in einer Familie: Die Kinder reicher Eltern wissen oft nicht mehr, warum es ihnen so gut geht. Wir kennen solche Geschichten etwa aus Thomas Manns «Buddenbrooks».
Man sagt oft, Liberale seien notorische Optimisten. Sie kommen uns eher wie ein Kulturpessimist vor.
Ich bin eigentlich kein Pessimist. Es ist einfach eine nüchterne Analyse, die ich vornehme. Der Liberalismus ist eine komplizierte Weltanschauung. Und er ist ergebnisoffen: Wir Liberale behaupten nicht, man müsse nur dies oder jenes machen, und dann sei klar, was passiert. Wir rechnen damit, dass Deregulierungen oder Steuersenkungen die unternehmerische Initiative wecken, aber wohin diese Initiative führt, ob sie einen Hightech-Boom auslöst oder dem Dienstleistungssektor hilft, wissen wir nicht. Die Menschen neigen zu sehr mechanistischen Vorstellungen von der Welt. Interventionisten argumentieren genau so: Wir müssen das beschliessen, damit jenes passiert oder nicht passiert. Die Realität widerlegt dieses Denken immer wieder, aber es bleibt populär.
Sie sagten eben, man habe den Liberalismus zu Unrecht für die Finanzkrise verantwortlich gemacht. Wo sehen Sie die Ursachen?
Am Anfang stand der Staat und nicht ein wildgewordener Markt. In den USA hielt der Staat die Banken dazu an, Hypothekarkredite an Leute zu vergeben, die sich diese Kredite gar nicht leisten konnten. Dazu kam eine verantwortungslose Geldpolitik, die Konjunktur- und Aktienkurseinbrüche um jeden Preis verhindern wollte. Auch das war eine politische Vorgabe. Dass sich die Krise dann in Europa zur Euro-Krise auswuchs, hat mit dem liederlichen Haushaltgebaren der Regierungen und mit der gegen alle ökonomische Vernunft konstruierten Euro-Zone zu tun. Hinzu kam hier wie dort eine Fülle von Regulierungen, die man nicht durchsetzen konnte, weil die Aufsichtsbehörden überfordert waren. Es ist ja nicht so, dass der Finanzsektor eine besonders deregulierte Branche gewesen wäre, im Gegenteil.
Hat nicht auch die Gier der Banker und Manager zur Krise geführt?
Gier ist eine unter allen Menschen weit verbreitete Eigenschaft. Jeder Investor möchte gern hohe Renditen haben. Wenn man ihm fünfzehn Prozent verspricht, springt er auf diesen Zug auf, egal, ob es sich bei ihm um einen Manager, einen Pensionskassenverwalter oder einen kleinen Sparer handelt. Kasse macht sinnlich, hat Joseph Schumpeter einmal gesagt. Wir möchten alle mehr, ausser ein paar wenigen Heiligen.
In einem Beitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» haben Sie Milton Friedman gelobt, den grossen amerikanischen Ökonomen. Friedman sagte, Gier sei gut.
So weit würde ich nicht gehen. Friedman hat die Provokation geliebt, und so muss man ihn interpretieren. Aber aus dem Streben nach mehr entsteht in der Tat viel Gutes. Die merkwürdige Idee einer Suffizienzgesellschaft, in der alle mit dem, was sie gerade haben, zufrieden sind, ist völlig unrealistisch und würde in die Stagnation führen. Und dies nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich. Insofern hat Friedman recht. Aber Gier bezeichnet ja ein übertriebenes Streben nach mehr und ist somit negativ belegt – auch für mich. Nur glaube ich im Gegensatz zu den Moralisten nicht, dass sie sich auf einige wenige – und natürlich immer die anderen – beschränkt.
Blicken wir auf Ihre intellektuelle Biografie: Thomas Held, Ihr Vorgänger bei Avenir Suisse, war einer der Wortführer der Achtundsechziger-Bewegung in Zürich. Wie war das bei Ihnen? Betrachteten Sie sich schon frühzeitig als Liberalen oder gab es irgendwann einen Moment der Erleuchtung?
Nein, den gab es nicht. Vom Alter her bin ich zwar ein Achtundsechziger: Ich habe 1969 mit dem Studium in St. Gallen begonnen. Das war damals eine kleine, relativ behütete Hochschule, aber selbstverständlich gab es auch dort linke Strömungen. Die Politisierung, die davon ausging, hat auch mich erfasst: Wir haben nächtelang intensiv diskutiert. Dass man sich über die grossen Fragen von Wirtschaft und Politik ereifert hat, war Teil der Kultur. Ich war damals staatsgläubiger als heute: Es ist einfacher, einen Hausbau zu verstehen, als die Anlage eines englischen Gartens. Ein Haus ist planbar. Liberalismus ist Gartenbau.
Aber die Gefahr, dass Sie den Verlockungen des Marxismus erliegen, bestand zu keinem Zeitpunkt?
Nein, aber ich habe mich mit dem Marxismus auseinandergesetzt, auch weil mein Doktorvater Walter Adolf Jöhr entsprechende Lehrangebote offerierte. Er hat Seminare gemacht über Che Guevara, Herbert Marcuse oder die Frankfurter Schule. Das war seine Antwort auf die Achtundsechziger. Das hat mich interessiert, aber ich bin nie «Ho, Ho, Ho Chi Minh!» rufend durch St. Gallen gelaufen oder habe Steine geworfen. Ohnehin blieb mir das Kollektive fremd: Ich war nie in einer Partei, obwohl ich denke, dass Parteien für die Demokratie wichtig sind. Meinem Naturell entspricht es eher, individualistisch unterwegs zu sein, und ich hatte das Privileg, dass mir das möglich war.
Kürzlich sagten Sie in einem Interview: «Wir orientieren uns zu unseren Nachbarn hin, obwohl es nicht die einzigen und vor allem nicht die einzig relevanten Länder sind, an denen wir uns orientieren sollten.» An wem sollte sich die Schweiz orientieren?
Dass man sich an den Nachbarn orientiert, ist normal. Aber da wir im Vergleich mit ihnen gut dastehen, besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr auf die Schulter klopfen. In einer globalisierten Welt halte ich das für kurzsichtig. Unsere Absatzmärkte liegen nicht nur in der EU. In 20 Jahren werden wir mehr als 50 Prozent unseres Aussenhandels mit Ländern ausserhalb der EU abwickeln. Dementsprechend müssen wir uns auch an Amerika und Asien orientieren, und zwar an den Ländern, die besser sind als wir.
Und welche sind das?
Wenn Sie die meisten Indizes der Wettbewerbsfähigkeit anschauen, liegen Hongkong und Singapur bei vielen wirtschaftspolitisch beeinflussbaren Kriterien vor uns. Natürlich kann und soll man nicht alles von ihnen übernehmen, aber lernen kann man schon von ihnen.
In den USA überraschen derzeit Donald Trump und Bernie Sanders bei den Vorwahlen. Beide haben sich äusserst kritisch geäussert, was Freihandelsverträge betrifft. Kündigt sich ein neues Zeitalter des Protektionismus an?
Ich fürchte es. Es ist eben schwierig, den Freihandel zu erklären, weil dort komplexe Mechanismen spielen. Wenn ich dagegen sage, wir haben hier eine Fabrik, die von einem ausländischen Konkurrenten bedrängt wird, und wenn der bei uns in den Markt einsteigt, muss die Fabrik schliessen, versteht das jeder, aber es ist Voodoo-Ökonomie. Dass Leute, die ihren Job verlieren, in einem anderen Bereich, der zukunftsträchtiger ist und eine höhere Wertschöpfung verspricht, wieder einen Job finden können – wofür es allerdings unter Umständen Umschulungen braucht –, ist sehr viel schwerer zu erklären. Deswegen ist die Versuchung des Protektionismus so gross.
Gleichzeitig erleben wir eine Rebellion gegen etablierte Politiker, egal, ob in den USA, in Deutschland oder in der Schweiz.
Das scheint mir übertrieben. Die Schweiz passt auch nicht ganz in dieses Muster. Die erwähnten Länder sind keine direkten Demokratien. Dort kann sich das Volk alle paar Jahre einmal äussern, dann werden in den Hauptstädten Entscheide gefällt, und das Volk sagt sich – ob zu Recht oder zu Unrecht –, die da oben machen ohnehin, was sie wollen. Das führt dann zum Erfolg eines Trump in den USA oder einer AfD in Deutschland. In dieser Hinsicht ist die direkte Demokratie das bessere System: Sie sorgt dafür, dass sich das Volk früh äussern kann. Vereinzelt kommen dann zwar Ergebnisse zustande, die einem nicht gefallen, aber die gleichwohl viel weniger schlimm sind, als wenn es zu einer Explosion des Unmuts käme. Dass Minarette verboten werden, obwohl sie nirgendwo ein Problem sind, damit kann und muss man leben.
Mit der direkten Demokratie verfügt die Schweiz über ein Ventil, dennoch gelingt es der SVP, das Misstrauen gegenüber Eliten erfolgreich zu bewirtschaften.
Die SVP tut so, als ob in Bern am Volk vorbei regiert würde. Natürlich stimmt das in diesem Ausmass nicht, denn wenn es so wäre, könnten die Unzufriedenen jederzeit das Referendum ergreifen und eine Korrektur versuchen. Bundesrat und Parlament müssen sich ja auch permanent bemühen, Gesetze so zu konzipieren, dass sie in einem Referendum bestehen könnten. Die Einführung des Euro in der EU wurde dagegen über die Köpfe der meisten Bürger hinweg beschlossen. Das wäre in der Schweiz nicht vorstellbar.
Nur sehr begrenzt der demokratischen Kontrolle unterworfen ist allerdings die Bundesverwaltung, die ja auch vieles entscheidet.
Das ist richtig, und es gilt in jedem politischen System: die Verwaltung hat eine unglaubliche, oft auch zu grosse Macht.
Eine Macht, die den Zielen des Liberalismus notwendigerweise entgegensteht?
Auch in der Bundesverwaltung gibt es überzeugte Liberale, doch wenn sie lange in Bern tätig sind, werden sie natürlich etwas abgeschliffen, das ist kaum zu vermeiden. Da gibt es Advokaten des Marktes, aber auch solche, die weltanschaulich auf einem ganz anderen Dampfer sitzen. In unserem Konkordanzsystem gibt es immer auch staatsgläubigere Bundesräte, was sich auf die Bestellung der Beamten auswirkt. Und die Liberalen im Land tendieren natürlich ein wenig mehr zur Privatwirtschaft oder werden sogar Unternehmer. Bei den Sozialisten und den konservativen Staatsgläubigen dürfte der Anteil, der in die Verwaltung geht, etwas höher sein. Aber so wie es Liberale in fast allen Parteien gibt, gibt es auch Liberale in der Verwaltung.
Dass Verwaltungen immer weiter wachsen, scheint allerdings ein Prozess zu sein, dem wir weitgehend machtlos gegenüberstehen.
Am ehesten könnte man dem begegnen, indem man Mechanismen wie eine Ausgabenbremse oder eine Regulierungsbremse einführt. Ohne solch abstrakte Massnahmen können wir den Staat kaum begrenzen. Es gibt ja kaum ein Gesetz, das sich auf den ersten Blick nicht irgendwie rechtfertigen lässt. Und auch das Geld wird nicht einfach sinnlos ausgegeben. Schliesslich geht es dem Gesetzgeber ja immer darum, ein Problem zu lösen. Trotzdem wird es in Summe zu viel und geht auf Kosten des Gestaltungsraums des Einzelnen. Da müsste man Limiten setzen, auch wenn sie willkürlich sind. Man könnte vorgeben, dass die Zwangsabgabenquote auf 30 Prozent gesenkt werden müsste. Das wäre nicht vermessen. Schliesslich empfanden die Bauern im Mittelalter bereits den Zehnten, den sie abliefern mussten, als Ausbeutung. Und ähnlich könnte man bei den Regulierungen eine Bindung an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung vorsehen. Zuerst müssten allerdings die Gesetze und Verordnungen beurteilt und gewichtet werden. Selbst wenn nur das unbedeutendste Viertel der Gesetze aufgehoben würde, wäre dies schon ein enormer Befreiungsschlag.
Die Staatsquote mag einen historischen Höchststand erreicht haben, doch wir beziehungsweise unsere gewählten Repräsentanten haben dies so gewollt.
Gewiss, es ist alles demokratisch legitimiert. Wir haben als Kollektiv so entschieden, das war beim Zehnten anders. Eine Staatsquote von 50 oder 60 Prozent wäre immer noch demokratisch, aber die Freiheit würde dadurch eingeschränkt. Der libertäre Philosoph Gerald Radnitzky sprach in diesem Zusammenhang von einem Entmündigungskoeffizienten.
Beispiele dafür, dass ein Land umsteuern kann, gibt es: Die Neunzigerjahre, in denen Sie Wirtschaftschef der NZZ wurden, gelten heute als für die Schweiz verlorenes Jahrzehnt. Die Wirtschaft stagnierte. Was geschah dann?
Die Jahre 1990 bis 1996 waren unter Wachstumsaspekten tatsächlich verloren. Das erklärt, warum schliesslich das berühmt-berüchtigte Weissbuch «Mut zum Aufbruch» geschrieben wurde, das die Initialzündung für Avenir Suisse war. Ich war einer der Mitautoren. Wir hatten damals das Gefühl, im Ausland gebe es eine gewaltige Dynamik, während die Schweiz stagniere. Diese Erkenntnis und die Ablehnung des EWR 1992 führten dann zu einem Aufbruch. Was wir forderten, produzierte damals einen Skandal, doch heute ist vieles davon umgesetzt. Krisen sind tatsächlich oft Chancen.
Heute finden wir Stagnation eher auf der anderen Seite, in der EU. Wie wichtig bleibt Europa für die Schweiz?
Die Beziehung zur EU bleibt eine wichtige und gleichzeitig schwierige. Die Schweiz ist ein kleiner Zwerg auf diesem Kontinent, wir sind unglaublich eingebettet. Gleichzeitig entwickelt sich die EU keineswegs erfreulich. Sie bleibt ein Klub, mit dem ich gute Beziehungen haben möchte, dem ich aber nicht unbedingt angehören will.
Ist die Euro-Krise überstanden oder haben wir sie nur vorübergehend aus dem Blick verloren?
Sie ist sicher nicht ausgestanden. Der Euro wurde aus politischen Gründen eingeführt, nicht aus ökonomischen. Wir haben es insofern mit einem Fehlkonstrukt zu tun, als man nicht auf Dauer gegen ökonomische Gesetze Politik machen kann. Die in den Siebzigerjahren diskutierte sogenannte Krönungstheorie sah die gemeinsame Währung als Endpunkt der Integration an. Sie hat sich nicht durchgesetzt. Die Währungsunion wurde vielmehr als Motor für die politische Einigung eingesetzt. Tatsächlich kann eine Währungsunion ohne Fiskalunion auf Dauer nicht funktionieren. Hier kommt eine Top-Down-Philosophie zum Ausdruck: Man wollte ein vereintes Europa von oben her durchsetzen. Auch wenn dies mit den besten Absichten geschehen sein mag, sehen wir in der Schweiz das doch anders, auch aus unserer Geschichte heraus. Bei uns müssen die Dinge von unten her wachsen.
Derzeit scheint die EU von einer Krise in die nächste zu stolpern. Ist sie überhaupt reformierbar?
Jede Institution ist reformierbar, aber es braucht dazu zwei, drei wichtige Player, die die Notwendigkeit sehen und Glaubwürdigkeit und Führungskraft besitzen. Es braucht wohl auch Leidensdruck, damit die Bevölkerung einschneidende Reformen akzeptiert. Ich hätte den Austritt Griechenlands aus dem Euro für richtig und möglich gehalten, aber es ging auch dort nicht um Ökonomie, sondern um Politik. Die Union sollte zusammenbleiben, man fürchtete einen Dominoeffekt. Vielleicht muss Druck aus Osteuropa kommen, vor allem aber müsste sich die politische Konstellation in Deutschland ändern. Ganz besonders kommt diese Haltung, Politik an den Gesetzen der Ökonomie vorbei zu betreiben und schmerzhafte Reformen hinauszuschieben, übrigens in der europäischen Geldpolitik zum Ausdruck, die ich für eine Katastrophe halte.
Ihr Kollege Beat Kappeler spricht im Zusammenhang mit der Geldschwemme der Nationalbanken von einem «keynesianischen Endpunkt», der bald erreicht sei. Gibt es ein Leben nach dem Keynesianismus?
Es gibt immer ein Danach, die Frage ist nur, wie es aussieht. Und da bin ich pessimistisch. Ich sehe keinen rechten Ausweg. Eine Situation, in der Sie dafür, dass Sie jemandem Geld ausleihen, nicht etwa etwas bekommen, sondern im Gegenteil sogar zahlen müssen, widerspricht jeder Logik. Im Übrigen würde ich das nicht als keynesianisch bezeichnen: John Maynard Keynes war zwar dafür, dass der Staat im konjunkturellen Abschwung Geld in die Hand nehmen und die Wirtschaft ankurbeln sollte, um dann in guten Zeiten wieder etwas auf die hohe Kante zu legen. Die heutige Flutung der Märkte als Keynesianismus zu bezeichnen, scheint mir eine Beschönigung. Es wird auf Teufel komm raus Geld gedruckt, und die Leute investieren nicht – oder aber sie investieren völlig falsch, was unweigerlich den nächsten Konjunktureinbruch vorbereitet.
Michael Ferber und Michael Rasch, zwei Wirtschaftsredaktoren der NZZ, empfehlen uns, wir sollten in Oldtimer, alten Whiskey oder Wein investieren.
(lacht) Ich kenne die beiden gut genug, um zu wissen, wovon sie träumen. Aber Spass beiseite. Die Frage ist: Was sind wirkliche Werte? Mit Aktien erwerben Sie zwar Anteile an einer Fabrik, aber woher wollen Sie wissen, ob der Preis, zu dem Sie kaufen, nicht viel zu hoch ist? Den Wein sollten Sie nicht zu lange aufbewahren, sonst könnte auch ein Totalverlust drohen. Mit einer selbstgenutzten Immobilie haben Sie wenigstens ein Dach über dem Kopf, also eine sichere Realrendite.
Das Thema, das derzeit ganz Europa bewegt, ist die Flüchtlingskrise. Von Liberalen haben wir dazu relativ wenig gehört. Haben Sie Antworten?
Das ist ein schwieriges Thema, das verständlicherweise sehr emotional diskutiert wird. Wenn man sagt, man müsse nüchtern reagieren, gerät man schnell unter Zynismus-Verdacht. Aber letztlich ist es ja auch eine Form von ethischer Verantwortung, dass man versucht, in solchen Situationen nüchtern zu bleiben. Zu sagen, wir sind offen für alles Elend dieser Welt, ist verantwortungslos, weil es nicht stimmt. Vor allem sollten wir sauber unterscheiden zwischen Kriegsflüchtlingen und jenen, die «nur» ein besseres Leben wollen. Wenn einer, der an Leib und Leben bedroht ist, vor Ihrer Tür steht, können Sie nicht überlegen, ob er Ihnen vielleicht die Möbel kaputt macht. Da müssen Sie helfen. Aber lediglich 40 Prozent der Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland gekommen sind, sind Syrer, und nur ein Teil davon sind Kriegsflüchtlinge im Sinne der Uno-Konvention; die anderen kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Das ist verständlich, aber es handelt sich eben nicht um Kriegsflüchtlinge, sondern um solche, die man zurückschicken müsste.
Müssten wir die legale Migration nach Europa nicht ganz anders steuern?
Es gäbe jedenfalls vernünftigere Mechanismen als Kontingente. Man kann potenzielle Einwanderer einer Prüfung unterziehen, man kann eine Lotterie durchführen oder ein Punktesystem praktizieren. Der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker hat «Eintrittspreise» vorgeschlagen, was ich für eine gute und marktnahe Lösung halte. Es heisst dann jeweils, Flüchtlinge hätten doch kein Geld. Aber ich spreche hier von Wirtschaftsflüchtlingen, die oft horrende Summen an Schlepper bezahlen. Das fiele weg. Sicher ist, dass uns das Thema noch über Jahrzehnte beschäftigen wird. Europa ist einem demografischen Überdruck ausgesetzt – aus dem Nahen Osten, noch viel stärker aber aus Schwarzafrika.
Die Probleme der Dritten Welt werden letzten Endes nur vor Ort gelöst werden können. Was müsste dort geschehen?
Vor allem müsste man für starke Eigentumsrechte sorgen und dafür, dass das Prinzip der Eigenverantwortung spielt: Die Leute dürfen nicht das Gefühl bekommen, es komme Manna vom Himmel. Wenn die Menschen wissen, dass sie verantwortlich sind und, wenn sie nicht reüssieren, zwar überleben, aber das nur am Existenzminimum, ist das ein grosser Anreiz, etwas zu leisten. Wenn einer dann aber Erfolg hat, muss er auch Geld verdienen können. Das ist weder bei uns noch in der Dritten Welt wirklich gewährleistet. Mir scheint, wir verstossen derzeit sowohl gegen das Prinzip der Haftung als auch gegen jenes des Profits: Hat ein Unternehmen Erfolg, gilt dieser schnell als nicht wirklich verdient, und die Eigentümer werden dann rasch weit überdurchschnittlich zur Kasse gebeten. Hat ein Unternehmen aus eigenem Verschulden keinen Erfolg, wird ihm, zumal, wenn es gross und arbeitsplatzrelevant ist, zu oft finanziell unter die Arme gegriffen. Wenn ich hier für eine unverkrampftere Belohnung des Erfolgs plädiere, meine ich das übrigens nicht nur materiell: Ich glaube, dass das Streben nach finanzieller Anerkennung auch, aber keineswegs nur mit dem Geld an sich zu tun hat. Viele Menschen sehen im Lohn, den sie beziehen oder im Gewinn, den sie erzielen, ein Zeichen des Erfolgs, dafür, dass sie vieles richtig gemacht haben.
Wirtschaftlicher Erfolg als Zeichen der Auserwähltheit, das klingt calvinistisch.
Als Zeichen der Leistung! Und ja: Ein bisschen ist die Welt auch calvinistisch.
Dieses Interview ist am 30. März 2016 in der Basler Zeitung erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Basler Zeitung.