Versorgungssicherheit mit Strom ist zentral. Umso höher ist die öffentliche Aufmerksamkeit, wenn – wie im Winter 2015/2016 geschehen – vor einer angespannten Versorgungssituation gewarnt wird. Aufgrund des trockenen Sommers und Herbstes produzierten die Laufkraftwerke weniger Strom als üblich, zusätzlich standen die beiden Blöcke des Kernkraftwerks Beznau für Revisionsarbeiten still. Das Ausweichen auf Importe war zwar möglich, jedoch behinderten Engpässe bei den Transformatoren einen Mehrbezug. Die Toleranzen waren gering, doch es kam nirgends zu einem grossflächigen Stromausfall.

Kurzfristig ist gemäss Aussagen der ElCom nicht mit einer ähnlichen Situation zu rechnen, denn es wurden die entsprechenden Lehren gezogen. Längerfristig jedoch könnte die Versorgungssicherheit wieder an Relevanz gewinnen. Die Schweiz wird sukzessive alle Kernkraftwerke abschalten, Deutschland wird diesen Schritt bereits 2022 vollzogen haben, und Frankreich tut sich zusehends schwer, seine alternden Atommeiler zu ersetzen. Die Schweizer Energiepolitik steht deshalb in den nächsten Jahren vor einem Grundsatzentscheid über die Ausgestaltung des zukünftigen Strommarktdesigns, was direkte Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit haben wird.

Keine Kapazitätsengpässe – der fehlende Notvorrat ist das Problem

Dabei hat aller Voraussicht nach die zukünftige Versorgungssicherheit der Schweiz mit Strom weniger mit Kapazitätsengpässen zu tun – trotz Abschaltung der Kernkraftwerke – als vielmehr mit der abrufbaren Energiemenge in einem Krisenszenario. Die installierte Produktionskapazität übersteigt heute die Spitzennachfrage um beinahe das Doppelte, ein kostspieliger Ausbau der Infrastruktur ist somit nicht effizient. Das Problem liegt woanders: Die heute verfügbar gemachte Energiemenge reicht aufgrund der limitierten Wasserreserven in den Speicherkraftwerken in einem Notfallszenario nicht aus, um die inländische Nachfrage über längere Zeiträume zu decken.

Ein zukünftiges Marktdesign muss den Stromproduzenten deshalb Anreize setzen, nicht nur den «Normalfall» abzudecken, sondern für Notlagen eine Reserve zu bilden, um einen Stromausfall zu verhindern. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat hierfür im Oktober die Schaffung einer sogenannten «strategischen Reserve» vorgeschlagen. Dies als Alternative zu den von der Stromwirtschaft vorgeschlagenen Modellen einer Grundversorgungsprämie mit Überführung in ein Versorgungs- und Klimamarktmodell (VKMM), bzw. eines Kapazitätsmarktmodells (KMM).

Unterschiedlicher Wert einer unterbrechungsfreien Stromversorgung

In den bisher diskutierten Ansätzen fehlt die Perspektive der Konsumenten, welche die zusätzlichen Kosten für die – auf welche Weise auch immer – angestrebte Gewährleistung der Versorgungssicherheit schliesslich zu berappen haben. Denn je nach Nutzer (z.B. Haushalte vs. Spitäler), Anwendungen (Licht vs. Beatmungsgerät), Zeitpunkten (tags vs. nachts) oder Substituten (eigener Generator, Batterien) variiert der subjektive Wert einer unterbrechungsfreien Stromversorgung aus dem Netz stark. Anstelle eines einheitlichen, politisch «verordneten» Sicherheitsniveaus für alle wäre es deshalb effizienter, wenn jeder selbst entscheiden könnte, wie viel (oder wenig) Sicherheit er benötigt. Die Kundenpräferenzen müssten möglichst ungefiltert weitergegeben werden können.

Technologisch werden die Voraussetzungen dafür bald geschaffen sein. Die Installation von immer mehr intelligenten Stromzählern erlaubt – die entsprechende Funktionalität programmiert – im Notfall eine viel feinere Steuerung der Abschaltungen. Es ist denkbar, dass Stromkonsumenten zukünftig nicht nur ihr Sicherheitsniveau der Versorgung selbst wählen können, sondern sogar bestimmen, welche Bedarfsgruppen im eigenen Haushalt bei einem Energieengpass zuerst abgeschaltet würden. Die Präferenzen der Konsumenten würden so viel genauer erfasst, die Souveränität stiege.

Entschädigung für Konsumeinschränkungen, auch bei Stromausfällen

Diese Angabe der Endkunden darüber, wie stark ihre Nachfrage bei verschieden hohen Preisen eingeschränkt werden darf, kann auf dem Markt angeboten und entsprechend vergütet werden. Für einen Teil der Nachfrage erfolgt dies bereits heute, im Rahmen von unterbrechbaren Verträgen für Grosskunden oder der Rundsteuerung, bei der manche Haushaltsgeräte zu bestimmten Tageszeiten nicht betrieben werden können. Anders als heute könnten aber auch darüber hinausgehende Einschränkungen der Nachfrage jederzeit, d.h. auch bei Stromausfällen, zu einer von den Kunden im Voraus festgelegten Vergütung entschädigt werden. Dies würde zu einem neuen, mehrstufigen Verfahren des Lastabwurfs führen, das durch den einzelnen Kunden beeinflusst werden kann.

Heute wird, im Rahmen des sogenannten «Under-Frequency-Load-Shedding», ein Rotationsprinzip angewandt. Basis bilden die mit hohen Kosten für die Stromkonsumenten teilweise luxuriös ausgebauten, über 1400 unabhängig schaltbaren Verteilnetzgebiete der Schweiz. Dies bedeutet, dass in Extremsituationen (als Letztmassnahme vor dem Netzzusammenbruch) zur Entlastung abwechselnd die Kunden verschiedener Verteilnetzgebiete getrennt werden, ohne dass der einzelne Konsument Zeitpunkt, Dauer und Umfang der Konsumeinschränkung beeinflussen kann.

Erhöhung der Konsumentensouveränität durch individuelle «strategische Reserve»

Falls nun eine «strategische Reserve» eingeführt wird, könnte die hierfür vorzuhaltende Energiemenge nicht planerisch top-down, sondern bottom-up durch die Summe der individuellen Nachfrage der Konsumenten bestimmt werden. Dabei legen die Stromkunden – z.B. jeweils im September – fest, wieviel Energie sie jährlich als individuellen Notvorrat zusätzlich zu ihrem «Normalverbrauch» kaufen wollen.

Wenn der von den Kunden unterhalb eines im Voraus (noch zu definierenden) Maximalpreises angebotene (freiwilligen) Bezugsverzicht nicht ausreicht, wird in einem zweiten Schritt die Nachfrage derjenigen Kunden eingeschränkt, die über keinen Notvorrat verfügen, ihn bereits aufgebraucht oder an den Versorger verkauft haben. Konsumenten, die unbedingt einen Stromunterbruch vermeiden möchten, können nicht nur die Einschränkung ihrer Nachfrage unterhalb des Maximalpreises untersagen, sondern zusätzlich dazu mehr Notvorrat einkaufen (was eine längere Überbrückung von Notsituationen erlaubt), oder eigene Vorkehrungen treffen (z.B. Stromgenerator, Batterien).

Gegenüber den bisher diskutierten Vorschlägen des Marktdesigns würde ein solches Modell sicherstellen, dass die Marktpreise bei Engpässen stets den tatsächlichen Wert widerspiegeln und die verbleibende Strommenge dort eingesetzt wird, wo sie den grössten Nutzen generiert. Die Konsumenten würden von einem individuell massgeschneiderten Niveau der Versorgungssicherheit und Kompensationen bei Abschaltungen profitieren. Stromanbieter hätten stärkere Anreize, allfällige Engpässe zu vermeiden. Das Modell könnte – eine weitere Ausdetaillierung vorausgesetzt – in Pilotprojekten getestet werden, um erste praktische Erfahrungen zu sammeln.

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist am 21.12.2017 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.