Mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft wird die Optimierung der ganzen Alterspflege – sei es ambulant zu Hause oder stationär in einem Heim – nötiger denn je. Doch wann sollten Patienten ambulant zu Hause, also von der Spitex, wann vom Personal in Heimen gepflegt werden?
Laut Studien der Spitex Schweiz und des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) ist die Behandlung durch die Spitex günstiger für jene Menschen, die weniger als 60 Minuten Pflege pro Tag benötigen. Hingegen ist die Pflege in einem Heim, inklusive Betreuung und Hotellerie, ab einem täglichen Pflegebedarf von 120 Minuten ökonomisch sinnvoller. Ambulante und stationäre Angebote sind komplementär. Leicht pflegebedürftige Personen sollten zu Hause, in betreuten Wohnungen oder in Tagesstrukturen, die schwer Pflegebedürftigen hingegen in Heimen gepflegt werden. Die ideale Strategie müsste also nicht «ambulant vor stationär», sondern «ambulant mit stationär» heissen.
Von dieser optimalen Aufstellung sind wir noch weit entfernt. Im Jahr 2014 brauchten 30 Prozent der Bewohner in Schweizer Alters- und Pflegeheimen weniger als 60 Minuten Pflege pro Tag. Viele dieser Bewohner könnten also zu Hause gepflegt werden. Doch während die ambulanten Dienste der Spitex für leicht Pflegebedürftige zwar einem verbreiteten Wunsch entspricht und ökonomisch sinnvoll wäre, dürfte sie gleichzeitig zu einer Verschärfung des Fachkräftemangels führen.
Für die Erbringung einer Pflegestunde zu Hause braucht es aufgrund der Anreisewege nämlich deutlich mehr Pflegepersonal als für die gleiche Stunde im Pflegeheim. Laut den offiziellen Statistiken konnten im Jahr 2015 die Spitex-Organisationen 35 Prozent weniger Pflegestunden pro Vollzeitstelle verrechnen als die Pflegheime. Zudem sind die Beschäftigungsgrade in Spitex-Organisationen und Pflegeheimen sehr unterschiedlich. Während in Pflegeheimen 2015 für fünf Vollzeitstellen sieben Personen angestellt waren, waren es im Spitex-Bereich zwölf! Der durchschnittliche Beschäftigungsgrad in der Spitex liegt deutlich tiefer als in Pflegeheimen. Für eine Pflegestunde zu Hause müssen darum mehr Pflegefachpersonen rekrutiert werden. Die Behandlung aller leicht pflegebedürftigen Heimbewohner zu Hause statt im Heim würde allein aufgrund der unterschiedlichen Beschäftigungsgrade die Rekrutierung von zusätzlich über 4000 Pflegefachpersonen erforderlich machen. Berücksichtigt man zudem die erwähnten Produktivitätsunterschiede wegen der Anreisewege, ergibt das einen weiteren zusätzlichen Personalbedarf von zirka 2400 Vollzeitstellen beziehungsweise rund 10’000 Teilzeitangestellten.
Möchte man alle leicht pflegebedürftigen Heimbewohner ambulant behandeln und die Gesamtzahl der Pflegefachpersonen trotzdem konstant halten, wäre die Erhöhung des Beschäftigungsgrades in Spitex-Organisationen von durchschnittlich 43 Prozent (2015) auf 57 Prozent zwingend. Eine solche Erhöhung des Beschäftigungsgrads ist sportlich, aber nicht undenkbar. Im Kanton Genf beträgt zum Beispiel das durchschnittliche Arbeitspensum in Spitex-Organisationen bereits 63 Prozent. In den Kantonen Uri, Tessin und Jura sind es 54 Prozent und mehr. Im Aargau, im Baselland und in Schaffhausen beträgt es hingegen weniger als 33 Prozent.
Man kann eine Erhöhung des Beschäftigungsgrads allerdings nicht einfach verordnen. Tiefe Arbeitspensen ermöglichen den Spitex-Organisationen zudem auch mehr Flexibilität und Kontinuität in der Kundenbetreuung. Die Pensen spiegeln überdies die Präferenzen und Möglichkeiten der Mitarbeiter. Will man die Pensen dennoch erhöhen, braucht es eine bessere Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie sowie finanzielle Anreize, die nach einer Erhöhung des Pensums auch zu entsprechend mehr Geld in der Haushaltskasse führen. Im Betrieb sind bei der Gestaltung des Einsatzplanes mehr Flexibilität und Mitwirkung für das Personal nötig. Ein Abbau von regulatorischen Auflagen würde auch die familienergänzenden Betreuungsangebote günstiger machen. Zudem braucht es einen Übergang zur wahlweisen Individualbesteuerung: Im geltenden System werden die Zweitverdiener – zumeist Frauen – durch die gemeinsame Veranlagung benachteiligt.
Die Alterspflege zu optimieren, ist also kein leichtes Unterfangen. Die ambulante Behandlung von leicht pflegebedürftigen Menschen, die heute in Heimen leben, könnte das Kostenwachstum in der Alterspflege zwar bremsen. Kann man aber den Beschäftigungsgrad in Spitex-Organisationen nicht markant erhöhen, wird die Verlagerung in den ambulanten Bereich entweder viel mehr Ausbildungsplätze von Pflegefachpersonen in der Schweiz nötig machen – oder den Zwang zur Rekrutierung im Ausland erhöhen.
Dieser Artikel ist in der Kolumne «Der externe Standpunkt» in der «NZZ am Sonntag» vom 28. Mai 2017 erschienen.