Nach der Zäsur vom 9. Februar 2014 kreisen die Diskussionen um die Frage: Wie kann das Kernanliegen der Zuwanderungsinitiative – die Limitierung der Einwanderung – EU-kompatibel umgesetzt werden? Das erste Spitzentreffen von Politik und Wirtschaft mag zwar ein frommes «Wunschkonzert» gewesen sein. Immerhin herrschte über den Erhalt der ­Personenfreizügigkeit mit der EU und der Bilateralen I breiter Konsens.

Dieser Konsens droht aber von einer unheiligen Allianz torpediert zu werden, deren wahre Absichten höchst unterschiedlich sind. Da sind zunächst jene, die auf eine enge Auslegung des Textes pochen, weil sie am liebsten nicht nur die Personenfreizügigkeit, sondern den ganzen, in den 90er- Jahren mühsam errungenen Modus Vivendi mit der EU begraben möchten. Für sie war die Initiative «gegen Masseneinwanderung» ein trojanisches Pferd, um die Beziehung mit der EU zu attackieren, und sie tun nun so, als ob die Schweiz über die Personenfreizügigkeit abgestimmt hätte und nicht über die Zuwanderung.

Dann gibt es jene, die nach einer möglichst strikten Umsetzung des neuen Verfassungsartikels rufen, aber nicht, wie sie vorgeben, aus Respekt vor dem Volkswillen, sondern weil sie den EU-Karren mutwillig an die Wand fahren möchten, um danach in einer zweiten Abstimmung das Stimmvolk zur Räson bringen zu können.

Und schliesslich gibt es noch jene, die zwar ehrlich, aber etwas naiv behaupten, nur die enge Auslegung bringe den Volkswillen zum Ausdruck. Dass durch ebendiese Auslegung das zentrale Ziel der Initiative, die Reduktion der Zuwanderung, auf der Strecke bleiben könnte, kümmert sie nicht.

Zuwanderungssog dämpfen

Alle Taktiken sind gefährlich, zum Teil sogar verantwortungslos. Für parteipolitisches Geplänkel ist die Situation zu ernst. Und es gibt sehr wohl Alternativen, die «jährliche Kontingente» mit Freizügigkeit verbinden. Avenir Suisse hat einen Vorschlag ins Spiel gebracht, der den Spagat wagt. Unsere Idee verknüpft einen zeitlichen Fahrplan mit der Überzeugung, dass die Schweiz den Zuwanderungssog, den sie in den letzten Jahren sogar unnötig verstärkt hat, von sich aus eindämmen kann. Ein Beispiel: Etliche Kantone betreiben eine Standortförderung, die zuziehende gegenüber ansässigen Firmen finanziell bevorteilt. Da in der Schweiz praktisch Vollbeschäftigung herrscht, heizt die zusätzliche Jobnachfrage der angeworbenen Firmen die Zuwanderung eins zu eins an. Auch wenn unklar ist, wie viele Arbeitsplätze über die Jahre mit dieser Praxis geschaffen werden, ist deren Widersprüchlichkeit doch offensichtlich.

Aber auch die Unternehmen stehen in der Pflicht. Sie müssen mit der für sie so wichtigen Freiheit der Anstellung verantwortungsvoller umgehen. So sollten sie das einheimische Arbeitskräftereservoir besser fördern und ausschöpfen.

Avenir Suisse hat früh darauf hingewiesen, dass zwischen der Personenfreizügigkeit und der internen Rekrutierung Zielkonflikte bestehen. So ist es oft einfacher und billiger, motivierte, gut ausgebildete Leute aus dem Ausland zu holen, als sich mit flexiblen Arbeitszeitmodellen für Frauen herumzuschlagen oder sich mit der Abschaffung von Frühpensionierungen unpopulär zu machen.

10-Jahr-Horizont

Weil die Umsetzung Zeit braucht, setzt der Fahrplan des Avenir-Suisse-Vorschlags auf Langfristigkeit. Indem zehn Jahreskontingente zusammengefasst werden, entsteht ein 10-jähriges Globalziel für die Zuwanderung, das im Sinne einer oberen Schranke verbindlich einzuhalten ist. Es braucht einzig die Flexibilität, ein Überschiessen in einem Jahr zu tolerieren und es erst später zu kompensieren. Dies verbietet der Verfassungstext nicht.

Sollte die Zwischenbilanz nach fünf Jahren zeigen, dass das Ziel verfehlt wird, drohen aber strenge Kontingente. Diese stellen zum einen sicher, dass die Schranke nach zehn Jahren nicht überschritten wird. Zum andern setzt die Aussicht auf Kontingente der Politik und Wirtschaft starke Anreize, rasch und glaubwürdig zuwanderungsdämpfende Massnahmen umzusetzen. Die konstruktiven Kräfte sollten sich auf eine Lösung verständigen, die den Volkswillen ernst nimmt, aber kein Zerwürfnis mit der EU provoziert.

Dieser Artikel erschien im Tages-Anzeiger vom 25. März 2014.
Mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.