Das Jahr 2016 wird ein gutes Jahr für die Einwohner des Tessins und für die Freunde grosser Tunnelbauprojekte. Im Februar stimmte das Volk für den Bau einer zweiten Gotthardröhre, und im Juni eröffnet nach 17 Jahren Bauzeit der Gotthard-Basistunnel. Der Strassentunnel (17 km) ist der längste der Schweiz und der Bahntunnel (57 km) gar der längste der Welt.
Für das Tessin bringen die Tunnelbauprojekte eine bessere Anbindung an die Wirtschaftszentren des Mittellandes, ermöglichen die Revitalisierung des darbenden Tourismussektors, verbessern die Lebens- und Standortqualität und bringen der lokalen Baubranche über Jahre lukrative Aufträge.
Auch der überregionale Nutzen ist vielfältig: Kürzere Reisezeiten, optimierte Verkehrsflüsse auf Europas wichtigster Nord-Süd-Achse für den Gütertransport, die Verlagerung des Transitverkehrs auf die Schiene sowie die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Bei aller Euphorie über die Vorteile der Tunnelbauten sollten jedoch die Kosten nicht vergessen werden – denn diese sind ähnlich eindrücklich.
Beide Grossprojekte zur Untertunnelung des Gotthardmassivs zusammen kosten etwa 15 Milliarden Franken – die Zubringerinfrastruktur nicht mitgerechnet. Angesichts dieser baulichen und finanziellen Superlative stellt sich die Frage, wer die Tunnel am Ende zahlt und in welche verkehrspolitische Gesamtstrategie diese Grossprojekte eingebettet sind.
Diesbezüglich gibt es zwischen den beiden Bauten grosse Unterschiede: Während im Fall der Neat der Bau der Infrastruktur (Hardware) in eine sektorale Gesamtstrategie (Software) eingebettet war, geht es beim Bau der zweiten Röhre bislang um eine reine Hardwarelösung.
Neat war Teil eines verkehrspolitischen Reformpakets
Nachdem das Stimmvolk den Alpentransit-Beschluss (1992) zum Bau der Neat, die Alpen-Initiative (1994) zur Verlagerung des Transitverkehrs und die FinÖV-Vorlage (1998) zur Neat-Finanzierung angenommen hatte, unterzeichneten die Schweiz und die EU 1999 das bilaterale Landverkehrsabkommen (LVA), das 2002 in Kraft trat. Der Bau der Neat war eingebettet in ein Bündel verkehrspolitischer Massnahmen, das im LVA verankert wurde.
Erstens öffnete das Landverkehrsabkommen den Markt für Strassen- und Schienenverkehr für den grenzüberschreitenden Wettbewerb. Zweitens vereinheitlichte es Normen und Standards, um Reibungsverluste und Markteintrittsbarrieren abzubauen. Drittens erhöhte die Schweiz die Gewichtslimite für Lastwagen von 28 auf 40 Tonnen, was Effizienzgewinne brachte und Kosten im Transportsektor senkte. Viertens erkannte die EU die Schweizer Verlagerungspolitik an und ermöglichte dadurch die Umsetzung der geplanten Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA).
Mit Einführung der LSVA 2001 wurde die Schweiz zum europäischen Pionier bei derEinführung einer allgemeinen Lastwagen-Strassennutzungsgebühr, denn die LSVA gilt nicht nur für Transitstrecken, sondern auf allen Strassen des Landes. Auch wenn die Schweiz das Ziel einer Reduktion des Transits auf 650’000 Lastwagen pro Jahr verfehlte, gelang es, den Wachstumstrend beim Transitverkehr zu brechen. Dank der Tarifdifferenzierung nach gefahrener Strecke, Emission und Gewicht setzt die LSVA Anreize zur Vermeidung negativer Externalitäten und wirkt so als Lenkungsabgabe.
Zudem ist das System technisch schlank und kommt auf Betriebskosten von weniger als 10% der Einnahmen. Die LSVA spielte seit ihrer Einführung im Jahr 2001 Einnahmen von gut 18 Milliarden Franken ein, etwa einen Viertel davon durch ausländische Fahrzeuge. Zwei Drittel der Gelder verwendet der Bund für diverse Bahnprojekte (z.B. die Bahn 2000, Neat, Lärmsanierung). Das übrige Drittel geht an die Kantone, die es für den Bau und Unterhalt der Strassen einsetzen. All diese Eigenschaften machen die LSVA zu einem gelungenen Beispiel für Mobility Pricing.
Tunnelgebühr als Schlüssel für eine Gesamtstrategie
So wie der Neat-Bau durch wichtige verkehrspolitische Reformen ergänzt wurde (z.B. Marktöffnung, Einführung der LSVA), so sollte auch beim Bau der zweiten Röhre das Infrastrukturprojekt durch eine Policy-Komponente angereichert werden. Dies wäre idealerweise eine Tunnelnutzungsgebühr.
Dafür gibt es gute Argumente. Erstens gibt es hier regelmässige Staus, die sich durch zeitlich differenzierte Tarife vermeiden liessen. Zweitens liegt der Gotthardtunnel auf der Haupttransitroute, und eine Gebühr könnte helfen, die externen Kosten der Transitfahrten abzugelten. Drittens stehen am Gotthard enorme Investitionen von circa 3 Milliarden Franken an.
Eine Gebühr ist das sinnvollste Finanzierungsinstrument für dieses Grossprojekt. Statt der Allgemeinheit, würden die Nutzer die zweite Röhre finanzieren, also genau jene, die auch davon profitieren. Zugleich wären die administrativen Kosten der Gebührenerhebung gering, denn es reicht für die Verrechnung je eine Erfassungsstation an beiden Portalen.
Im Nachbarland Österreich gibt es seit Jahrzehnten Nutzergebühren auf sechs alpenquerenden Autobahnabschnitten. Dazu zählt neben fünf langen Tunneln auch der Brennerpass, der neben dem Gotthard zu den wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen durch die Alpen gehört. Aber auch in der Schweiz gibt es bereits seit 1968 einen gebührenpflichtigen Strassentunnel, am Grossen St. Bernhard.
Politisch könnte eine Tunnelgebühr die Gegner der zweiten Röhre nachträglich mit dem Projekt versöhnen. Ihre Hauptsorge ist schliesslich, dass die Kapazitätserweiterung zu mehr Transitverkehr führt. Da eine Gebühr drosselnd auf die Verkehrsnachfrage einwirkt, könnte die Politik ihrer Versicherung Glaubwürdigkeit verleihen, dass der Bau der zweiten Röhre nicht zu mehr Verkehr führe. Wenn dies gesichert ist, könnte sich auch der Wiederstand gegen eine Nutzung der gesamten Tunnelkapazität legen.
Viel besser wäre es, den Verkehr über eine Gebühr zu drosseln, durch zeitlich differenzierte Tarife Staus zu vermeiden, die volle Kapazität beider Röhren zu nutzen und ganz nebenbei das Milliardenprojekt durch Benutzergebühren zu finanzieren. Ein solches Gesamtpaket würde die infrastrukturelle Hardware durch verkehrspolitische Software ergänzen – analog zum Vorbild der Neat.
Dieser Artikel ist am 4. Mai in der Handelszeitung erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.