Als die Schweiz am 28. Februar dieses Jahres die EU-Sanktionen gegen Russland übernahm, war dies für viele ausländische Beobachter ein Zeichen des Endes der Schweizer Neutralität (vgl. New York Times). Den meisten dürfte jedoch mittlerweile klar geworden sein, dass ein grosser Unterschied zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik besteht: Ersteres ist völkerrechtlich klar definiert und regelt primär den (militärischen) Umgang mit Kriegsparteien (EDA 2022). Das Ergreifen wirtschaftlicher Sanktionen wird dabei nicht verboten, womit der neutrale Status der Schweiz rechtlich gesehen nicht verletzt wurde.

Die Neutralitätspolitik, hingegen, steht für die Gesamtheit der Massnahmen, die ein Staat ergreift (oder explizit nicht ergreift), um die Glaubwürdigkeit seiner Neutralität zu sichern. Wie weit eine einzelne Massnahme gehen darf, bevor ein Staat nicht mehr als neutral gilt, bleibt jedoch – aufgrund fehlender rechtlicher Kriterien – Interpretationssache. So war es bei den aktuellen Sanktionen – und so wird es ab nächstem Jahr sein, wenn die Schweiz für zwei Jahre ihren Sitz im Uno-Sicherheitsrat einnimmt. Konkret stellt sich hierbei die Frage: Wie glaubwürdig ist die Neutralität noch, wenn man dem Gremium beitritt, dessen Aufgabe es ist festzustellen, ob eine Bedrohung des Friedens oder ein Angriff vorliegt, und das zudem die Macht hat, Sanktionen oder sogar die Anwendung von Gewalt zu genehmigen?

Die Universalität der Uno

2015 hielt der Bundesrat fest, dass ein nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat durchaus neutral bleiben könne. Er verwies dabei nicht nur auf die Mitgliedschaft anderer neutraler Länder wie Irland oder Norwegen, sondern auch auf die Tatsache, dass es sich bei der Uno nicht um ein militärisches Bündnis handelt (Bundesrat 2015). In der Tat besteht heute ein Grossteil der Arbeit der Uno aus humanitärer Hilfe, dem Menschenrechtsschutz sowie der Verbreitung von Informationen zum Stand der verschiedenen Entwicklungsziele (Weiss 2022).

Damit hat sich die Organisation seit ihrer Gründung allerdings stark verändert: als 1942 die Deklaration der Vereinten Nationen unterschrieben wurde, beteiligten sich nur die Alliierten des Zweiten Weltkriegs, die gegen Deutschland, Italien und Japan kämpften. Es handelte sich also um eine Kriegspartei ohne neutrale Staaten. Dies wurde 1945 in der Uno-Charta nochmals bekräftigt, indem festgelegt wurde, dass – wenn nötig – jedes Mitglied einen Beitrag zur kollektiven Sicherheit leisten müsse. Somit war nicht einmal eine «einfache» Uno-Mitgliedschaft eine Option für die Schweiz – ganz zu schweigen von einem Sitz im Sicherheitsrat (Gunter 1976).

Uno-Hauptsitz in New York. (The Blowup, Unsplash)

Ändern konnte sich dies erst, als die Anzahl Mitgliedstaaten zunahm und sich abzeichnete, dass die Uno zu einer Organisation mit universaler Repräsentation werden würde. Ausserdem kam das Prinzip der kollektiven Sicherheit in der Praxis selten bis nie zum Zug – auch weil die gegensätzlichen Ideologien im Sicherheitsrat ein Einschreiten meist verhinderten. Stattdessen entwickelte sich die Uno immer stärker zu einer Plattform, auf der internationale Probleme auf multilateraler Basis besprochen und gelöst werden konnten. Es waren zuletzt aber auch die Erfahrungen anderer neutraler Staaten – wie z.B. Österreich, das 1976 der Uno beitrat – die zu einem Umdenken in der Schweiz führten. Dennoch dauerte es noch einige Jahre, bis es zu einer Mitgliedschaft kam: Der erste Anlauf scheiterte 1986 an einem Referendum, erst 2002 wurde der Beitritt durch das Volk angenommen.

Die Schweiz im Rampenlicht

Ab Januar 2023 wird die Schweiz nun erstmals als eines von zehn nicht-ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat tätig sein. Sie erhält damit die Chance, für zwei Jahre eng mit den Grossmächten USA und China zusammenzuarbeiten und zwischen diesen zu vermitteln. Doch die Mitgliedschaft birgt auch Risiken für die Neutralität. Dies ist unter anderem auf die Zusammensetzung des Sicherheitsrats zurückzuführen: Obwohl bei der Wahl der nicht-ständigen Mitglieder auf eine angemessene geografische Repräsentation geachtet wird, handelt es sich um ein Organ, das vor allem den Grossmächten dient. Der universale Charakter, den die Uno über die Jahre erreicht hat – und der Schweiz überhaupt erst den Beitritt ermöglichte – wird somit abgemindert.

Hinzu kommt, dass der Rat nur tätig werden kann, wenn alle fünf ständigen Mitglieder – die alle eine Vetomacht besitzen – damit einverstanden sind. In der Praxis führt dies dazu, dass nur selten Zwangsmassnahmen beschlossen werden. Für neutrale Staaten ist dies allerdings keine Entlastung, denn bis es überhaupt so weit kommen kann, braucht es einen Beschluss, dem mindestens neun Mitglieder zustimmen (NZZ 2022). Wenn sich ein Veto bereits im Voraus abzeichnet – wie jüngst beim Ukraine-Krieg (DFA 2022) – gleicht die Abstimmung deshalb eher einer Parteinahme. Neutrale Mitglieder hätten in solchen Fällen zwar die Möglichkeit sich zu enthalten, doch dies kann oft als implizite Zustimmung wahrgenommen werden und die Neutralität eines Landes fast genauso in Frage stellen.

Die Schweiz wird bei weitem nicht das erste oder letzte neutrale Land im Sicherheitsrat sein. Und doch muss man bedenken, dass das Neutralitätsverständnis in jedem Land ein anderes ist und eine eigene Geschichte oder Tradition hat. Während Österreich bereits früh die Neutralität so definierte, dass ein Uno-Beitritt möglich war, verfolgte die Schweiz viel länger einen integralen Ansatz (Riklin 2010). Für die Schweiz könnte sich die Zeit im Rat als spezielle Herausforderung entpuppen, insbesondere da sich zuletzt gezeigt hat, wie gespalten das Land in der Neutralitätsdebatte ist. Für ihre Aufgabe im Rat ist dies wohl ein Nachteil, denn Mitglieder müssen oft sehr schnell Entscheidungen über ihre Position bei Abstimmungen treffen. Der Bundesrat hat klar gemacht, dass er dies in «politisch wichtigen» Fällen selber tun will (NZZ 2022). Ansonsten sollen möglichst oft die aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments bzw. nur deren Präsidenten miteinbezogen werden.

Die Schweiz sollte sich am besten noch vor 2023 entscheiden, ob sie einen differenzierten Ansatz wie Irland verfolgt, das im Rat gegen Russland stimmte und sich seither als «militärisch, nicht aber politisch neutral» definiert. Die andere Möglichkeit wäre eine absolute Neutralität, die allerdings konsequent umgesetzt werden müsste. Sonst entsteht die Gefahr, als opportunistisch und nicht neutral zu erscheinen. Zurzeit scheint sich die Schweiz weder für das eine noch das andere entscheiden zu können. Etwas Zeit hat sie noch.