Avenir Suisse hat in der Studie «Neue Massstäbe für die Alterspflege» die Organisation der Alterspflege in den Kantonen untersucht. Studienleiter Jérôme Cosandey hat darin Optimierungspotenzial auf verschiedenen Ebenen entdeckt. So sei Spitex nicht immer die günstigste Lösung: Je nach Setting würden ab 60 Minuten Tagespflege Patienten in einem Heim kostengünstiger betreut als zu Hause. Anderseits liege der Anteil an Pflegeheimbewohnern, die weniger als 60 Minuten pro Tag oder gar keine Pflege benötigen, im Schweizer Durchschnitt bei 30%. Die Analyse hat grosses Echo ausgelöst, ist aber auch auf Kritik gestossen. In einem Streitgespräch im Spitex-Magazin hinterfragen Rahel Gmür und Peter Mosimann, Vizepräsidenten im Zentralvorstand des Spitex Verbandes Schweiz, manche Schlussfolgerungen der Studie.
Spitex Magazin: Das Hauptfazit der «Avenir Suisse»-Studie lautet, dass die heutige Alterspflege für die Zukunft schlecht gerüstet ist.
Jérôme Cosandey: Die Studie ist eine Momentaufnahme. Unser Ziel war eine Auslegeordnung entlang den Bereichen Organisation, Kosten und Finanzierung der ambulanten und stationären Alterspflege. Dabei haben wir eine Wertung aus liberaler Sicht vorgenommen und Empfehlungen formuliert. Tatsache ist, dass wir vor grossen sozialen, personellen und finanziellen Herausforderungen stehen.
Peter Mosimann: Das ist unbestritten. Die Politik muss vorwärtsmachen, um Zukunft und Finanzierung der Alterspflege zu sichern. Das Thema ist in der Politik noch immer zu wenig präsent, darüber zu sprechen, ist anstrengend. Der SVS setzt sich hier an vorderster Front ein. Aktuell bei den Verhandlungen um die neue Pflegefinanzierung oder generell im Parlament.
Spitex Magazin: Avenir Suisse ortet erhebliche Defizite bei der aktuellen Ausgestaltung der Alterspflege.
Jérôme Cosandey: Wir brauchen ein besseres Zusammenspiel zwischen ambulant und stationär. Heute ist die Alterspflege nicht in allen Kantonen gleich effizient und es besteht grosses Optimierungspotenzial. Dabei gibt es nicht den einzig richtigen Weg. Der Kanton Bern hat andere Prioritäten als der Kanton Uri. Aber es gibt bessere und schlechtere Ansätze.
Rahel Gmür: Es gibt sicher Potenzial. Zum Teil basiert der Bericht jedoch auf Datenmaterial, bei dem unklar ist, welche Leistungen hinter den Tarifen stehen. Das verleitet zu falschen Folgerungen. Beispielsweise werden die spitalexterne Onkologiepflege oder die Kinderspitex, welche beide sehr kostenintensiv sind, in den Daten nicht separat ausgewiesen. Die Spitex-Leistungen lassen sich nicht überall so vergleichen, wie das Avenir Suisse tut.
Spitex Magazin: Gemäss Studie können Patienten mit mehr als 60 Minuten Tagespflege je nach Situation im Heim günstiger betreut werden als mit der Spitex.
Peter Mosimann: Je nach Intensität des Pflegefalls schneidet die Spitex auch im Bereich von 60 bis 120 Minuten besser ab. Das gilt vor allem bei Pflegefällen von leichter bis mittlerer Komplexität. Einzubeziehen sind natürlich auch die Investitionskosten der Pflegeheime. Das zeigt auch eine Studie vom BASS, dem Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien, welche die Grenzen der Spitex aus ökonomischer Sicht untersucht hat. Wann welche Art der Pflege günstiger ist, ist immer vom konkreten Fall abhängig.
Jérôme Cosandey: Das beweist auch eine Studie vom schweizerischen Gesundheitsobservatorium, Obsan, welche festhält, dass je nach Setting ab 60 Minuten Tagespflege Patienten in einem Heim kostengünstiger betreut werden als zu Hause. Dies auch, weil das Fachpersonal besser nach seinen Kompetenzen eingesetzt wird und beispielsweise unproduktive Reisekosten wegfallen.
Rahel Gmür: Auch die Spitex setzt ihre Fachkräfte gezielt nach Ausbildungsniveau und Kompetenzen ein. Diplomiertes Pflegefachpersonal wird für ärztlich verordnete Behandlungspflegeleistungen sowie für Beratung und Koordination eingesetzt, Grundpflegeleistungen werden von einer Fachperson Gesundheit oder Pflegeassistenz ausgeführt.
Peter Mosimann: Reisekosten fallen an, da die Spitex zu den Klienten nach Hause geht, unproduktiv sind sie nicht. Die NPO Spitex erfüllt die Versorgungspflicht. Das heisst, sie übernimmt alle Patienten, welche ambulante Hilfe und Pflege benötigen. Darunter fallen auch Einsätze, die wirtschaftlich nicht rentabel sind, zum Beispiel bei langer Wegstrecke und kurzem Pflegeeinsatz.
Spitex Magazin: Gibt es auch Patienten im Pflegeheim, die nicht dorthin gehören?
Jérôme Cosandey: Ja, der Anteil an Pflegeheimbewohnern, die weniger als 60 Minuten pro Tag oder keine Pflege benötigen, liegt im Schweizer Durchschnitt bei 30 Prozent. Für viele wäre eine ambulante Behandlung denkbar.
Spitex Magazin: Um diese Fehlallokation zu korrigieren, fordern Sie einen Gesinnungswandel?
Jérôme Cosandey: Die Organisation der Alterspflege muss über die ganze Versorgungskette optimiert werden. Leichtpflegebedürftige sollen daheim, in Tagesstrukturen oder betreuten Wohnungen gepflegt werden, Schwerpflegebedürftige im Heim. Es braucht eine bessere Verbindung, eine Strategie des «ambulant mit stationär».
Peter Mosimann: Fakt ist, die Bevölkerung lebt immer länger zu Hause. Die Nachfrage nach Pflege und Betreuung zu Hause steigt. Das ist auch der Wunsch einer grossen Mehrheit der Bevölkerung und spricht für den bewährten Grundsatz «ambulant vor stationär». Das bestätigt auch eine Obsan-Studie im Auftrag des Kantons Zürich. Mit einer stärkeren Förderung des ambulanten Bereichs liessen sich massiv Pflegebetten einsparen.
Spitex Magazin: Inwiefern hat die vorgegebene Tarifierung gemäss Krankenversicherungsgesetz Einfluss auf die Zuteilung?
Jérôme Cosandey: Es ist stossend, dass heute die Vergütung einer Pflegeminute unterschiedlich geregelt ist. Der Beitrag der Krankenversicherer ist bei den Pflegeheimen anders als für die Spitex. Das führt zu Fehlanreizen und letztlich zu höheren Kosten. Hier könnten die Krankenversicherer eine Koordinationsrolle übernehmen.
Rahel Gmür: Die Politik sollte generell die Krankenversicherer stärker in die Pflicht nehmen. Die Spitex ist bis zur Pflegestufe 5 tendenziell günstiger als das Pflegeheim. Darunter sollten gar keine Einweisungen akzeptiert werden. Ich bin überzeugt, dass das massiv Kosten sparen würde. Darüber hinaus werden gewisse Spitex-Leistungen und komplexe Pflegesituationen zu Lasten der Klienten heute zu wenig abgegolten. Da braucht es dringend Korrekturen.
Spitex Magazin: Drei Viertel der Pflegekosten sind Personalausgaben …
Jérôme Cosandey: … was heisst, dass hier der grösste Hebel besteht. Wir haben festgestellt, dass kaum ein Zusammenhang zwischen Lohnkosten und erbrachten Leistungen besteht. Auch dann nicht, wenn wir die Lebenshaltungskosten eingerechnet haben. Das heisst, die Löhne sind nicht von den lokalen Marktverhältnissen abhängig, sondern von der jeweiligen Verhandlungsstärke der Sozialpartner. Relevant sind ferner die Sachkosten und die Effektivität, also wieviel Personal pro Pflegeminute eingesetzt wird. In allen Bereichen kann optimiert werden.
Peter Mosimann: Wir müssen aufpassen. Nicht die Kosten sollten allein an erster Stelle stehen, sondern auch die Qualität und die Ausbildung. Gerade die Spitex erbringt diesbezüglich eine enorme Leistung. Die Qualitätssicherung bei der Ausbildung oder Dienstleistungen im zwischenmenschlichen Bereich lassen sich nicht in Franken und Rappen messen.
Jérôme Cosandey: Da gebe ich Ihnen recht. Nur heisst günstiger nicht zwingend schlechter. Ich kann die Effizienz steigern, indem ich unproduktive Reisezeit verkürze oder die Administration vereinfache. Alle Kantone argumentieren immer mit der Qualitätssicherung, aber kein einziger Kanton macht sie sichtbar und veröffentlicht Qualitätsdaten. Das ist ein Mangel und verunmöglicht eine sachliche Diskussion.
Rahel Gmür: Es ist falsch, das Thema alleine auf die Effizienz zu reduzieren. Wie lange eine Fachperson bei einem Klienten bleibt, ist alleine vom Bedarf abhängig.
Spitex Magazin: Die Studie fordert die öffentliche Ausschreibung bei Versorgungsaufträgen. Warum wehrt sich die Spitex dagegen?
Rahel Gmür: Wir wehren uns nicht. Wichtig ist, dass mit gleich langen Ellen gemessen wird, dass beispielsweise bei einem Versorgungsauftrag auch unattraktive oder abgelegene Regionen abgedeckt sind. Wie erwähnt, hat die NPO Spitex heute einen Leistungsauftrag mit Versorgungspflicht. Das heisst, wir sind auch zu Einsätzen verpflichtet, die wirtschaftlich nicht rentabel sind. Die Erfahrung zeigt, dass bei einem Einsatz mit kostenintensiven Vorhalteleistungen, welche teils oder gar nicht abgegolten sind, sich die privaten Anbieter verabschieden. Bei rentablen Einsätzen findet der Wettbewerb schon heute statt.
Jérôme Cosandey: Einverstanden, es braucht eine saubere Auslegeordnung auf deren Basis der Auftraggeber entscheiden kann. Der Kunde beurteilt letztlich das Preis /Leistungs-Verhältnis und das Angebot, weshalb die Finanzierung nicht von der Kostenstruktur der Leistungserbringer abhängig sein sollte, sondern sich nach der erbrachten Leistung richten soll. Deshalb sind wir dafür, dass die Versorgungspflicht separat und transparent abgegolten wird, indem Leistungsaufträge ausgeschrieben werden. Der Kanton Solothurn zeigt, dass mit einer öffentlichen Ausschreibung die Kosten und Preise sinken.
Peter Mosimann: Ob die Preise tatsächlich sinken, ist zu prüfen. Schon der Aufwand, den wiederkehrende Ausschreibeverfahren verursachen, führt zu Mehrkosten. Auch heute werden die öffentlichen Gelder entsprechend der geleisteten Arbeit bezahlt. Die Kantone geben je nach Dienstleistungsart jährlich aktualisierte Normkostensätze vor, die sie aus den Kostenrechnungen der Spitex-Organisationen ableiten.
Rahel Gmür: Die Spitex ist offen und fit für den Wettbewerb. Aber wir haben in einzelnen Regionen sicher noch zu viele kleine Organisationen. Die Spitex ist in den Gemeinden entstanden. Das erklärt die heutige Heterogenität. Ausgangslage, Rahmenbedingungen und Versorgungsauftrag einer kleinen Spitex im Berner Oberland sind nicht die gleichen wie die einer grossen städtischen Spitex.
Spitex Magazin: Wie finanzieren wir die künftige Alterspflege?
Jérôme Cosandey: Optimierungen, Effizienzsteigerungen und neue Abgeltungsmodelle sind der erste Beitrag. Daneben sind wir der Ansicht, dass es besser wäre, wenn jede Person für ihre Pflegeleistungen ab 55 Jahren selber aufkommen muss. Hierfür schlagen wir ein obligatorisches individuelles Pflegekapital vor.
Rahel Gmür: Berücksichtigen wir die ungewisse, offene Wirtschaftslage, bin ich mir nicht sicher, ob der Einzelne zukünftig dafür noch Geld zur Verfügung haben wird.
Jérôme Cosandey: Heute werden die Kosten wesentlich über Krankenversicherungsprämie und Steuern bezahlt. Bei Einführung eines obligatorischen Pflegekapitals müssten sich diese markant reduzieren. Aber schauen wir die Alternativen an. Der Status quo führt gemäss eidgenössischer Finanzverwaltung zu zwölf Prozent Steuererhöhung und einem weiteren Anstieg der Krankenkassenprämie. Diskutiert wird eine Pflegefinanzierung nach dem Umlageverfahren, dessen Folgen wir heute bei der AHV sehen. Ein obligatorisches individuelles Pflegekapital wirkt eher kostendämpfend, weil es den Anreiz hat, sparsam zu sein. Nichts tun ist auf jeden Fall keine Lösung.
Spitex Magazin: Wissen wir überhaupt, wie die Situation in zwanzig Jahren aussieht?
Peter Mosimann: Nein. Das heisst aber, wir müssen die gesetzlichen Vorgaben so gestalten, dass wir auf neue Gegebenheiten rechtzeitig reagieren können. Dass wir Grundlagen im Gesetz regeln, aber nicht die Details, wie das in einigen Kantonen heute der Fall ist. Das verunmöglicht effizientes Handeln in einer multifaktoriellen Umgebung. Man darf in einem komplexen Gefüge wie dem Gesundheitswesen nicht isolierte Schlüsse ziehen.
Rahel Gmür: Wir müssen künftig in grösseren Dimensionen und in regionalen Konzepten denken. Die Zukunft liegt in regionalen Versorgungskonzepten, in denen Spital, Spitex, Reha und Hausärzte zusammen die Versorgung planen. Wir müssen weg vom heutigen Silodenken. Ich bin überzeugt, dass die NPO Spitex auch in Zukunft eine führende Rolle einnehmen wird.
Peter Mosimann und Rahel Gmür nahmen am Gespräch in ihren Funktionen als Vizepräsidenten des SVS-Zentralvorstands teil. Daneben amtet Mosimann als Generalsekretär des imad Genf, Gmür ist Präsidentin der Spitex des Kantons Bern. Dieses Interview ist im Spitex-Magazin vom Oktober/November 2016 erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Weiterführende Informationen:Avenir Suisse: «Neue Massstäbe für die Alterspflege»Spitex-Verband Schweiz: Studie Ökonomische Grenzen der SpitexGesundheitsdirektion des Kantons Zürich: Langzeitpflege- & Spitexversorgung