Was in China innert einer Generation geschah, kam auf der ganzen Welt in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nie vor: Von 1990 bis 2017 verzehnfachte[1] sich das reale BIP pro Einwohner – für weit über eine Milliarde Menschen!

Eine andere Milliarde – jene in Europa, Nordamerika (und Australien) – musste mit deutlich geringerem Wohlstandswachstum auskommen. Vor allem der Mittelstand, so wird moniert, habe seit 1990 kaum mehr zulegen können: Er sei Opfer der Globalisierung und Digitalisierung, während die Hochqualifizierten von eben diesen Entwicklungen und die untersten Einkommensdezile vom Ausbau der Sozialwerke profitiert hätten. Zum ersten Mal seit Beginn der industriellen Revolution müsse eine Generation auf Annehmlichkeiten verzichten, von denen ihre Mütter und Väter noch profitiert hätten, so die Erzählung – die teilweise nicht von der Hand zu weisen ist: Wenn es z.B. um Immobilienkauf geht, stehen die Millennials mit ihren Löhnen schlechter da als die Babyboomer. Grund dafür ist allerdings nicht nur eine Lohnentwicklung, die vielerorts nicht mit den Immobilienpreisen mithalten konnte, sondern auch die Tatsache, dass aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer später geerbt wird.

Bezogen auf einen durchschnittlichen Güterkorb hat hingegen die Kaufkraft der Mittelstandslöhne durchaus zugenommen. Gemäss Daten der Luxemburg Income Study stieg zwischen 1989 und 2014 die Kaufkraft des Medianeinkommens[2] in Australien um 54%[3]. In Grossbritannien[4] lag der Anstieg bei 51%, in den USA[5] bei 32%, in Deutschland[6] bei 18%, in der Schweiz[7] (nur) bei 15%[8] und in Norwegen[9] bei 12%. Tatsächlich Einbussen in der Kaufkraft erlitt unter den wichtigsten Industrieländern nur der Mittelstand in Italien: Hier sank der reale Medianlohn zwischen 1991 und 2014 um 9%.

Ein Wagen aus der unteren Mittelklasse bietet heute deutlich mehr Gegenwert als ein Wagen derselben Klasse 1990. (Wikimedia Commons)

Das sind insgesamt – gerade im Verhältnis zu exorbitanten 900% von China – zugegebenermassen keine allzu beeindruckenden Werte, doch sie sind – so viel ist festzuhalten – mit einer Ausnahme deutlich im positiven Bereich. Und: Wenn wir uns wirklich die Frage stellen, welche Annehmlichkeiten sich der Mittelstand 2019 im Vergleich zu 1990 leisten kann, dann zeichnen diese Zahlen ein viel zu pessimistisches Bild der Lage! Der Güterkorb, der zur Berechnung der Kaufkraft der Löhne herangezogen wird, kann den technologischen Fortschritt nämlich nur unzureichend wiedergeben.

  • Nehmen wir als harmloses Beispiel zum Einstieg ein Mittelklasseauto. Im Güterkorb ist ein Mittelklasseauto ein Mittelklasseauto. In Wirklichkeit sieht das aber 2019 total anders aus als 1990. 1990 setzten sich langsam ABS und Airbags durch, sonst war da nichts. Heute stecken in einem Mitteklasseauto diverse elektronische Assistenzsysteme, Systeme zur aktiven und passiven Sicherheit, der Fahrkomfort ist gestiegen, die Motorleistung hat sich fast verdoppelt, der Verbrauch fast halbiert. Auch ohne Anstieg der «Kaufkraft» kann sich ein Mitglied des Mittelstands heute also ein viel besseres Auto leisten als 1990. Bald fahren auch Mittelklasseautos halbautonom und in ein bis zwei Jahrzehnten möglicherweise sogar ganz autonom, was den Insassen weitere erhebliche Nutzengewinne bringen wird.
  • Oder schauen wir uns die TV-Geräte an. Heute erhält man für 1500 Fr.[10] einen Flatscreen-TV mit UHD Auflösung (3840 auf 2160 Pixel) und einer Bildschirmdiagonale von 65 Zoll (165 cm). 1990 konnte man für jene 1200 Franken, die unter Berücksichtigung der Inflation heutigen 1500 Fr. entsprechen, einen klobigen Röhren-TV mit SD-Auflösung von 640 auf 480 Pixel (27 mal weniger Bildpunkte als UHD) und etwa 60 cm Bildschirmdiagonale kaufen.
  • Doch das ist nur die Hardware. Bleiben wir beim TV und gehen zu den Anwendungen: Wer 1990 eine Sendung aufzeichnen wollte, kaufte sich für 20 Fr. eine VHS-Kassette, auf die maximal vier Stunden Aufnahme passten. Die musste er dann mühsam vor- oder zurückspulen, um z.B. nochmal zu sehen, wie Andy Brehme in der 85. Minute den Foulelfmeter zum Sieg der Deutschen in der Fussball-WM verwandelt. Heute schauen wir uns solche und viele andere Momente jederzeit gratis auf Youtube an. TV-Provider ermöglichen bis zu sieben Tage zurück den Abruf ausgestrahlter Sendungen (auf über 100 Sendern). Uns braucht es nicht mehr zu kümmern, wann welche Sendung läuft. Die Werbung und alle langweiligen oder sogar schmerzhaften Teile einer Sendung, z.B. wenn Helene Fischer in der Halbzeitpause singt, können wir einfach auslassen. Wem das nicht reicht, kann 11.90 Fr. pro Monat für Netflix ausgeben und hat damit jederzeit ohne weitere Kosten Zugriff auf tausende Filme und TV-Serien.[11]
  • Oder die Musik: 1990 wurden die alten Tonbänder von CDs abgelöst. Das Album «Nevermind» (1991) der Grunge-Band Nirvana kostete mindestens 20 Fr. – und die meiste andere Musik aus jener Zeit war leider Schrott, kostete aber gleichviel. Heute können Sie für 12.95 Fr. monatlich bei Spotify und Konsorten unbeschränkt Millionen von Liedern streamen.
  • Und es geht weiter: Stellen Sie sich vor, was 1990 die Zahlungsbereitschaft gewesen wäre, um die Recherchemöglichkeiten, jenen unbeschränkten und barrierefreien Zugang zu Daten und Informationen zu haben, die das Internet heute ermöglicht! Damals: Bibliotheken, Fotokopierer, Faxgeräte.
  • Smartphone: Brauchen wir über das Smartphone überhaupt erst zu sprechen? Wahrscheinlich nicht. 1990 pure Science-fiction, wofür wir dieses Gerät in der Hosentasche heute alles verwenden können und wie viele einzelne, teure Hard- und Software es ersetzt. Heute für jede Mittelstandsperson eine Selbstverständlichkeit.
  • Oder um zuletzt eine konkrete Anwendung zu nennen: Google Earth. Noch im Jahr 2000 – geschweige denn 1990 – wäre es der verwegene Traum eines jeden Geografen gewesen, einen derartigen Zugriff auf weltweites Kartenbildmaterial zu haben. Heute ist dieser gratis und eine Selbstverständlichkeit, inkl. abfotografierte Strassen, 3D-Modelle der Topografie und sogar von Gebäuden.

An diesen Beispielen sollte klar ersichtlich sein: Sogar der italienische Mittelstand, der auf dem Papier 9% an Kaufkraft verloren hat, nutzt heute ganz selbstverständlich technologische Errungenschaften, von denen 1990 sogar die obersten Einkommensprozente nicht zu träumen wagten. Das soll nicht heissen, dass es dem italienischen Mittelstand heute besser geht als den reichsten Schweizern 1990 – subjektives Wohlbefinden ist vor allem vom Abgleich von Erwartung und Wirklichkeit sowie vom Vergleich mit Zeitgenossen abhängig – aber es zeigt doch deutlich, dass die Klage über die Stagnation der Kaufkraft des Mittelstandes viele Fakten ausblendet.

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[1] Von 1515 USD im Jahr 1990 zu 15175 USD im Jahr 2017 (IMF Daten, 2011 International Dollars)

[2] Medianeinkommen: 50% der Haushalte haben ein höheres Einkommen als das Medianeinkommen, 50% der Haushalte haben ein tieferes Einkommen.

[3] Die von der LIS abgerufenen Daten sind nominelle Werte in lokaler Währung. Die hier zitierten Prozentwerte basieren auf der Umrechnung in internationale 2011-USD mittels der Angaben des IWF zu nominellem BIP und KKP-BIP.

[4] Zwischen 1991 und 2013

[5] Zwischen 1991 und 2016

[6] Zwischen 1991 und 2015

[7] Zwischen 1992 und 2013

[8] Obwohl die 1990er-Jahre in der Schweiz bekanntermassen wirtschaftlich gesehen als «verlorenes Jahrzehnt» gelten, überrascht der geringe Wert von 18% etwas. Ohne Kaufkraftkorrektur stünde die Schweiz – wegen der permanenten Aufwertung des Frankens – deutlich besser da. Möglicherweise führt die Kaufkraftkorrektur zu einer Unterschätzung der Wohlstandsentwicklung in der Schweiz – und zwar z.B. dann, wenn der preisniveaubestimmende Güterkorb die günstiger werdenden Importe, die fast 50% des Schweizer Konsums ausmachen, nicht hinreichend abbildet.

[9] Zwischen 1991 und 2013

[10] Wir gehen wir von – nach heutigen Ansprüchen – vernünftiger Qualität aus. Der günstigste 65-Zoll-TV ist derzeit sogar für 800 Fr. erhältlich.

[11] Allerdings nur in SD. Wer HD will, zahlt 15.90 Fr, wer UHD will, zahlt 19.90 Fr.