Die Gemeindeautonomie im Zusammenspiel mit der direkten Demokratie ist ein wichtiger Erfolgsfaktor des Modells «Schweiz» und mitverantwortlich für die Bürgernähe und Bedarfsgerechtigkeit der staatlichen Leistungserbringung sowie für den verhältnismässig schlanken Staatsapparat. Genau diese Autonomie wird aber zunehmend ausgehöhlt. Die Gründe sind einerseits in der wachsenden Diskrepanz zwischen der institutionellen Raumgliederung und den funktionalen Räumen, anderseits in den steigenden gesetzlichen Anforderungen von Bund, Kantonen und – nicht zuletzt – den Ansprüchen der Bürger zu suchen. Die Folgen sind die schleichende Zentralisierung von Aufgaben und besonders von Entscheidkompetenzen sowie die Auslagerung eines immer grösseren Anteils kommunaler Aufgaben in Gefässe der interkommunalen Zusammenarbeit, in denen die Bürger meist weniger Mitwirkungsmöglichkeiten haben als in den Gemeinden. Beides schmälert die Bedeutung der Gemeindeebene und senkt dadurch die Bürgernähe der Leistungserbringung.
Das nunmehr vierte Kantonsmonitoring von Avenir Suisse beinhaltet, erstens, eine umfassende Analyse des Ist-Zustandes der Schweizer Gemeinden. Wie hoch ist die Gemeindeautonomie wirklich? Durch welche Entwicklungen wird sie gefährdet? In welchen Kantonen ist der Reformbedarf besonders gross? Von der Aufgabenteilung über die Leistungsfähigkeit der Gemeinden bis zur Typologie der bisher erfolgten Gemeindezusammenschlüsse werden über ein Dutzend Teilaspekte untersucht.
Zweitens werden die Massnahmen bewertet, die die Kantone ergreifen, um dem Bedeutungsverlust der kommunalen Ebene entgegenzuwirken. Die Bewertung erfolgt in den vier Teilgebieten «Finanzkontrolle und Transparenz», «Interkommunaler Finanzausgleich», «Interkommunale Zusammenarbeit» sowie «Fusionsförderung» und umfasst insgesamt neun Kriterien. Diese werden in der Tabelle auf Seite 5 der Medienmitteilung erläutert und dienen gleichsam als Handlungsanweisungen an die Kantone. Wie bei den Kantonsmonitorings von Avenir Suisse üblich, wurde der Grossteil der in der Studie diskutierten Informationen mittels einer Befragung erstmals erhoben.
Im Gesamtranking geht der Kanton Solothurn als Sieger hervor. Er verdankt dieses Resultat nicht spektakulären Einzelergebnissen, sondern einem soliden Abschneiden in allen vier Teilgebieten. Generell ist die Position der Kantone wesentlich vom Abschneiden im Teilgebiet «Fusionsförderung», das nicht für alle Kantone gleich relevant ist, geprägt. Als «heimlicher Sieger» darf der Kanton Glarus gelten. In den beiden Teilgebieten, die für den Kanton nach seiner Gemeindestrukturreform noch relevant sind, belegt er den Spitzenplatz. Wichtiger als das Gesamtranking, das eher einer besseren Übersicht als der abschliessenden Beurteilung der Qualität der kantonalen Gemeindestrukturpolitik dienen soll, sind jedoch einige allgemeine Erkenntnisse:
- Wahre Gemeindeautonomie bedeutet eine möglichst grosse Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Gemeinden in finanzieller, organisatorischer und politischer Hinsicht, nicht bloss die rechtliche Unabhängigkeit von übergeordneten Staatsebenen.
- Die tatsächliche Gemeindeautonomie ist schon heute deutlich kleiner als ein oberflächlicher Blick auf die Daten vermuten liesse. An diesem Zustand tragen die Gemeinden zumindest eine Teilschuld: Die Gleichsetzung des Begriffs «Gemeindeautonomie» mit einer Existenzgarantie führt bei vielen Gemeinden zu einer Abwehrhaltung gegenüber Reformen, die die Gemeindeautonomie als Ganzes langfristig stärken würden oder zumindest eine weitere Schwächung verhindern könnten.
- Fehlanreize auf institutioneller und individueller Ebene verhindern, dass es ohne Zutun der Kantone zu einer Optimierung der Gemeindestruktur kommt. Insofern sind gemeindepolitische Massnahmen der Kantone kein ungebührlicher Eingriff in die Gemeindeautonomie, sondern eine Korrektur bestehender Verzerrungen.
- Ein Top-down-Vorgehen der Kantone ist allerdings nur dort erfolgversprechend und unter dem Gesichtspunkt der Bürgersouveränität erwünscht, wo in der Bevölkerung die Bereitschaft dafür vorhanden ist.
Eines ist klar: Der Anspruch auf eine effiziente und professionelle Erfüllung der immer komplexeren Aufgaben ist kaum vereinbar mit dem Anspruch, diese weiterhin autonom durch institutionelle Minieinheiten zu erbringen und damit eine maximale Bürgernähe zu garantieren. Kantone und Gemeinden stehen vor der Herausforderung, den richtigen Kompromiss zwischen Fusionswahn und dem Festklammern an einer (Schein-)Autonomie zu finden.