Der Vorschlag von Avenir Suisse, angesichts demografischer Herausforderungen eine Pflegeversicherung einzuführen, hat ein breites Echo gefunden. Leider ging etwas unter, dass die Idee Teil eines ganzen Bündels von harten und weichen Massnahmen zur Überwindung der wachsenden Generationen-Ungerechtigkeit darstellt. Sie wäre für sich allein kaum ausreichend, die gewaltigen Probleme, die auf uns zukommen, zu lösen. Unter den Reaktionen gab es mehr negative als positive, was kaum überrascht. Die wohlhabenden Länder dieser Welt leiden unter einem Status-quo-Bias, wie das Milton Friedman genannt hat. Der Vorstoss ist zumindest für die Schweiz genügend neu und relevant, um Widerstände zu wecken. Gemähte Wiesen sind für einen Think-Tank in der Regel ein Zeichen dafür, dass er zu spät kommt, seine Ideen banal oder marginal sind – oder alles zusammen.
Freiwillige Versicherungen genügen nicht
Hingegen erstaunen einige Kritikpunkte gegenüber dem Avenir-Suisse-Vorschlag insofern, als sie sich nur mit einer zu engen Betrachtung der Ausgangslage oder mit Missverständnissen erklären lassen. Der happigste Vorwurf an die Adresse einer Institution, die Marktwirtschaft und Liberalismus verpflichtet ist, lautet, die Forderung nach einem Versicherungsobligatorium sei unliberal. Nun ist Zwang allen, die auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung setzen, unsympathisch. Wenn er trotzdem auch von liberalen Geistern nolens volens akzeptiert wird – man denke an das Krankenkassen- oder das BVG-Obligatorium –, so deswegen, weil wir nicht im Nirwana und nicht in der besten aller Welten leben. Die auch Liberalen wichtigen Auffangnetze für einkommensschwache Bürger bergen die Gefahr des Trittbrettfahrens, und ihr kann nur mit Obligatorien begegnet werden. Die in der Schweiz von diversen Gesellschaften angebotenen freiwilligen Pflegeversicherungen bieten deshalb keine Lösung.
Wir müssen den Zwangscharakter des vorgeschlagenen Vorsparens für die Alterspflege mit dem Istzustand vergleichen. Heute werden die Pflegekosten von jenen, die genügend Rente und Vermögen haben, selbst berappt. Wenn sie in Zukunft einen Teil ihrer Ersparnisse in eine obligatorische Pflegeversicherung einzahlen müssten, würde ihr Freiheitsraum praktisch nicht eingeschränkt. Freiwilliges Sparen würde durch Zwangssparen verdrängt, wenn auch kaum im Verhältnis 1:1. Bei all jenen, die nicht oder nicht vollständig für ihre Pflegekosten aufkommen können, springen heute jedoch die Krankenkassen und der Fiskus ein. In dieser wachsenden Gruppe gibt es auch immer mehr, die ihr Vermögen bewusst konsumieren und den Kindern verschenken, damit der Staat nicht darauf Rückgriff nehmen kann, sondern sie im Gegenteil noch mit Ergänzungsleistungen unterstützen muss. Solches Trittbrettfahren ist alles andere als fair, was Finanzierung durch Zwangsabschöpfung bei anderen besonders stossend macht.
Somit steht der Staat vor der Alternative, die Pflegekosten entweder durch staatlich verordnete Zwangsersparnisse der Individuen oder durch bereits existierende Zwangsabgaben – Steuern und Krankenkassenprämien – zu finanzieren. Im ersten Fall wird Zwang auf jene ausgeübt, die später vermutlich der Pflege bedürfen und ihr Erspartes wieder aufbrauchen, im zweiten Fall auf die Jungen und die Wohlhabenderen, die dadurch nicht in erster Linie sich selbst, sondern einen wachsenden Teil der übrigen Bevölkerung unterstützen müssen. Letzteres nennt man dann gerne Solidarität.
Kapitaldeckung statt Umverteilung
Der Idee eines Vorsparens für die Alterspflege liegt die mit Zahlen untermauerte Überzeugung zugrunde, dass Pflegebedarf und -kosten in Zukunft geradezu explodieren werden. Man wird daher entweder Steuern und Krankenkassenprämien erhöhen müssen, um eine intransparente, in keiner Weise freiwillige Umverteilungsfinanzierung zu sichern, oder man wird die Menschen zum rechtzeitigen Ansparen für ihre eigene Pflege verpflichten müssen. Etwas verkürzt handelt es sich im einen Fall um den Zwang zur Umverteilung, im anderen um die Pflicht zur Eigenvorsorge. Weil eine Zwangsfinanzierung der Alterspflege de facto schon heute besteht, engt der Vorschlag von Avenir Suisse also nicht Freiräume ein, sondern ersetzt bestehende Zwangsabgaben durch ein neues, transparenteres Pflichtsparen.
Das vorgeschlagene Ansparen für die Pflege ist umso mehr mit der Idee der Freiheit und des Privateigentums verträglich, als es um veritable Kapitaldeckung ohne jegliche Umverteilung geht. Das Geld wird nicht nur auf einem individuellen Konto angespart, sondern kann im Gegensatz zu den Pensionskassengeldern auch vererbt werden. Wer es nicht für die Pflege braucht, wird nicht zugunsten der Mitversicherten enteignet, sondern kann es mit dem Tod an seine Nachkommen weitergeben. Das setzt Anreize, möglichst viele Pflegeleistungen in der Familie zu erbringen und Kosten zu sparen, was beim Status quo nicht der Fall ist.
Schliesslich ist auch die These, die obligatorische Pflegeversicherung bedeute eine Ausweitung des Staates, eine Chimäre. Der Vorschlag von Avenir Suisse geht davon aus, dass es wie in der Zweiten Säule oder im Gesundheitswesen völlig private Unternehmen sind, die die Pflegeversicherung anbieten, seien es bestehende Institutionen wie die Kranken- oder die Pensionskassen, seien es neue Marktteilnehmer. Allerdings handelt sich nicht etwa um die Schaffung völlig neuer Angebote, sondern nur um eine neue Finanzierung bereits heute existierender Pflegeleistungen.
Gegenüber dem Status quo bringt die Idee des obligatorischen Ansparens von Pflegekapital einen Zugewinn an Freiheit, an Effizienz, an Anreizen zum Kostensparen und an Fairness. Zwar bleibt man damit weit von einem liberalen Ideal entfernt, aber man bewegt sich wenigstens in die richtige Richtung. Das ist in der realen Welt nicht wenig.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. Juli 2014. Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.