Der Schweizer Arbeitgeberverband, der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail Suisse haben einen Reformvorschlag der zweiten Säule präsentiert, der eine Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8% auf 6,0% vorsieht. Um Rentenverluste zu vermeiden, sind eine Ausweitung der Definition des versicherten Lohns (mittels Halbierung des sogenannten Koordinationsabzugs), eine Anpassung der altersabhängigen Lohnbeiträge und die Einführung einer Zusatzrente für Neurentner, die über Lohnbeiträge der Aktiven finanziert wird, vorgesehen.

Realität am Arbeitsmarkt berücksichtigen

Der Vorschlag, den Koordinationsabzug zu halbieren, verdient Aufmerksamkeit. In der beruflichen Vorsorge ist nicht der gesamte Lohn versichert, sondern nur der Teil oberhalb von 24’675 Franken, und zwar unabhängig vom Arbeitspensum. Personen mit tiefen Einkommen, und vor allem Personen, die Teilzeit arbeiten (vor allem Frauen, aber immer mehr Männer) oder ein 100%-Arbeitspensum auf mehrere Arbeitgebern aufteilen, sind so in der 2. Säule schlechter versichert. Die Senkung des Koordinationsabzugs ist deshalb eine wichtige Anpassung an die Arbeitsmarktrealität des 21. Jahrhunderts.

Der Schweizer Gewerbeverband lehnt diese Massnahme ab. Diese Abwehrhaltung ist nachvollziehbar, weil die Anpassung für Branchen mit vielen Teilzeitangestellten – zum Beispiel im Detailhandel, in der Hotellerie oder im Reinigungsbereich – zu einer abrupten Erhöhung der Lohnnebenkosten führen würde. Verdient heute eine Teilzeitangestellte 30’000 Fr. im Jahr, so waren bisher nur ca. 5000 Franken der BVG-Pflicht unterstellt. Mit der Halbierung des Koordinationsabzugs wären in diesem Beispiel ca. 18’000 Franken Einkommen massgebend für die Bestimmung der BVG-Beiträge. Entsprechend würden sich die Sozialabgaben mehr als verdreifachen. Diese Veränderung hätte in den oben genannten Branchen schwerwiegende Konsequenzen, auch deshalb, weil diese Branchen oft mit tiefen Margen operieren.

Man sollte jedoch das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Eine Senkung des Koordinationsabzugs, ja sogar dessen ganze Abschaffung, wie Avenir Suisse bereits vorgeschlagen hat, bleibt ein sinnvolles Ziel in einer modernen Gesellschaft. Dieses muss jedoch nicht gleich bei der Einführung der Reform erreicht werden. Man könnte die Senkung schrittweise auf fünf oder zehn Jahre strecken. Damit hätten die besonders betroffenen Branchen Zeit, um ihre Arbeits- und Lohnstrukturen anzupassen.

Providurium verhindern

Die Rente bei der Pensionierung ergibt sich aus der Multiplikation des angesparten BVG-Kapitals mit dem Umwandlungssatz. Ohne Begleitmassnahme würde die vorgeschlagene Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8% auf 6,0% zu einer Senkung der Altersrenten in der zweiten Säule führen. Um das Rentenniveau zu halten – eine Senkung wäre in der kurzen Frist politisch wohl chancenlos – muss deshalb das Sparkapital vor der Pensionierung gestärkt werden.

Für jüngere Mitarbeiter wird dieses Ziel mit erhöhten Lohnbeiträgen erreicht. Für Mitarbeiter, die kurz vor der Pension stehen, reichen allerdings die zusätzlichen Beiträge nicht, um das Rentenniveau zu halten. Für diese «Übergangsgeneration» braucht es eine Sonderlösung. Es ist einerseits eine Sache der Fairness, weil diese Personen kaum Zeit haben, sich an die neue finanzielle Situation anzupassen. Anderseits sind solche Lösungen politökonomisch kaum zu vermeiden, weil die Babyboomer, die von diesen Massnahmen betroffen werden, eine wichtige und mächtige Wählergruppe darstellen. Die Frage ist vielmehr, wie grosszügig und wie lange diese Übergangslösung sein soll.

Der Vorschlag des Schweizer Arbeitgeberverbands und der Gewerkschaften sieht dafür vor, eine pauschale Zusatzrente für alle Neurentner einzuführen. Diese würde 200 Franken pro Monat für die ersten fünf Jahre nach Inkrafttreten der Reform betragen und dann sukzessive auf 100 Franken pro Monat in den folgenden 10 Jahren reduziert werden. Nach dieser Frist soll der Bundesrat entscheiden, ob und wie er diese Zusatzrente weiterführen will.

Das war einmal: Jede Säule der Altersvorsorge über einen eigenen Schalter steuern. (unsplash)

Finanziert wird die Zusatzrente in einer AHV-Logik, also im Umlageverfahren, und kostet 0,5% Lohnbeiträge. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Schweizer Arbeitgeberverband, der noch bei der Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 vehement eine Zusatzrente von 70 Franken pro Monat bekämpft hatte, die ebenfalls mit Lohnbeiträgen hätte finanziert werden müssen, heute eine solche von 200 Franken pro Monat unterstützt.

Über Höhe und Staffelung dieser Zusatzrente wird im Parlament bestimmt noch viel diskutiert und gefeilscht. Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem, dass diese zusätzliche Leistung nach Ablauf der Übergangsfrist auf null reduziert wird. Es wäre naiv zu glauben, dass dann der Bundesrat dem Lied der Sirenen widerstehen könnte, die nach einer Weiterführung, ja einem Ausbau dieser Zusatzrente rufen werden. Somit würde man eine Umlagekomponente in der kapitalbasierten zweiten Säule institutionalisieren. Und man würde neben dem Umwandlungssatz und dem Mindestzins einen weiteren technischen Parameter in der beruflichen Vorsorge verpolitisieren und dem Gesetz der Schwerkraft entziehen – also dem Einfluss der Demografie und der Kapitalmarktrenditen.

Fluch und Segen von Kompromissen

Der gemeinsame Vorschlag des Schweizer Arbeitgeberverbands, des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und von Travail-Suisse ist offensichtlich ein politischer Kompromiss. Er mischt Elemente auf der Beitrags- und Leistungsseite. Dieser Kompromiss muss in einem breiteren Kontext gesehen werden. Ein Tag nach der Vorstellung des Reformvorschlags der Sozialpartner für die zweite Säule hat der Bundesrat seine Massnahmen für die Reform der ersten Säule, der AHV, präsentiert. Auch dieser steht als Kompromiss da – weil die Anpassung des Frauenrentenalters an dasjenige der Männer mit Kompensationsmassnahmen von ca. 700 Millionen Franken im Jahr versehen ist. Eine allgemeine Erhöhung des Rentenalters für Mann und Frau über 65 wird bei dieser Reform nicht gewagt, obwohl kein anderes Land wie die Schweiz eine bessere Ausgangslage hätte, um dies zu tun. Anders läuft es in 17 OECD-Ländern, wo das Rentenalter 67, ja sogar 68 entweder bereits in Kraft ist oder dieser Schritt zumindest entschieden worden ist (hören Sie den Avenir-Suisse-Podcast dazu).

Die Sozialpartner müssen wohl die Gesamtausgaben in der ersten und zweiten Säule in den Augen haben, wenn sie hier oder dort auf Konzessionen eingehen. Die Reform der Altersvorsorge ist somit eine Art Schachspiel auf mehreren Bretten, wo Opfer in einem Spiel durch Gewinne auf dem anderen ausgeglichen werden.

So sehr solche Kompromisse in der Politik üblich sind, so wichtig ist es, dabei den Blick für die lange Frist nicht zu verlieren. Die Schweiz hat mit dem Drei-Säulen-Konzept ein äusserst robustes System geschaffen, das wirtschaftliche und demografische Risiken mit unterschiedlichen Finanzierungsregimen diversifiziert. Während die im Umlageverfahren finanzierte AHV primär der demografischen Entwicklung und dem Risiko des einheimischen Arbeitsmarkts ausgesetzt ist, besteht das Risiko für die kapitalgedeckte obligatorische berufliche Vorsorge und die freiwillige Säule 3a aus den Schwankungen auf dem Schweizer und dem internationalen Kapitalmarkt. Diese Risikodiversifikation ist ein zentrales Element einer soliden und nachhaltigen Schweizer Altersvorsorge und darf nicht auf dem Altar der kurzfristigen politischen Kompromisse mit einer neuen, dauerhaften Zusatzrente im Umlageverfahren in der zweiten Säule geopfert werden.