«Switzerland first»? Tatsächlich belegt unser Land in einschlägigen Rankings oft einen der vordersten Plätze, so auch im diesjährigen Global Innovation Index. Politische Stabilität, die Dichte an forschenden und entwickelnden Unternehmen und das Vorhandensein qualifizierter Fachkräfte hieven die Schweiz in diese Spitzenposition. Dazu sind wir Patent-Weltmeister und weisen einen vergleichsweise liberalen Arbeitsmarkt aus.
Für die wirtschaftliche Wohlfahrt massgeblich ist der florierende Aussenhandel. Die Schweizer Exportquote beträgt gegenwärtig rund 70 Prozent: 50 Prozentpunkte davon generieren unmittelbar Wertschöpfung im Inland, 20 Prozentpunkte sind auf Vorleistungen aus dem Ausland zurückzuführen. Und dank dem föderalistischen Wettbewerb und der direkten Demokratie verfügen wir über eine hohe Lebenszufriedenheit, so die Erkenntnisse des Zürcher Glücksforschers Bruno S. Frey.
Der wirtschaftliche Erfolgsweg ist eindrücklich. Seit 1892 ist das reale BIP pro Kopf inflationsbereinigt um 1,6 Prozent pro Jahr gewachsen. Der allgemeine Wohlstand erweist sich im internationalen Vergleich als hoch, und die Einkommensschere ist hierzulande nicht aufgegangen. Kann sich die Schweiz also voller Zufriedenheit ob des Erreichten zurücklehnen, steht der Erfolgsweg auf genügend solider Basis? Sollte «Switzerland first» gleichbedeutend mit der in einschlägigen Zirkeln diskutierten Wunschvorstellung einhergehen, wonach ein Mehr an Schweiz auch dem europäischen Kontinent guttun würde?
Mentaler Schutzwall
Ein Tauchen unter die Welle der wirtschaftlichen Erfolgszahlen ist notwendig, um nicht ins Fahrwasser helvetischer Selbstgefälligkeit zu gelangen. «The Complacent Class», wie sie der US-Ökonom Tyler Cowen in seinem neuen Werk fulminant umschreibt, beschränkt sich nicht singulär auf amerikanisches Territorium. Nur schon die vertiefte Analyse des eingangs beschriebenen Global Innovation Index legt nahe, dass allein die Verteidigung des Status quo keine Lösung sein kann, sondern im Gegenteil erheblicher Reformbedarf gegeben ist.
Stolz auf das Schweizer Unternehmertum? Zu Recht! Doch wenn die Innovationskraft, gemessen etwa an den Patenten, primär von den etablierten multinationalen Schweizer Unternehmen ausgeht und unser Land bei den Patentanmeldungen von Jungunternehmen unter dem OECD-Durchschnitt liegt, sollten die ersten Warnlampen aufleuchten. Auch wenn man nicht von Klumpenrisiken, sondern von Klumpenchancen reden sollte: Der Anteil des Handelsvolumens der drei grössten börsenkotierten Schweizer Unternehmen am SMI beträgt gegen 60 Prozent. Zum Bild der stockenden Weiterentwicklung der Unternehmenslandkarte Schweiz passt, dass die betriebliche Tätigkeit zunehmend erschwert wird. Die Folge: Punkto «ease of doing business» ist die Schweiz auf Rang 31 abgerutscht, bei «time to start a business» belegen wir nur noch Rang 56. Rahmenbedingungen für Start-ups sind hierzulande alles andere als günstig.
Es verwundert nicht, dass die Schaffung einer neuen Kategorie von Arbeitsbewilligungen für ausländische Staatsangehörige, die in der Schweiz ein Unternehmen gründen wollen, aus Sicht des Bundesrates nicht erforderlich erscheint; eine entsprechende parlamentarische Initiative wurde abgelehnt. Zwar werden unsere führenden Hochschulen gut mit Steuermitteln dotiert, doch ihren hochqualifizierten Absolventen aus Drittstaaten werden keine beschleunigten Verfahren zur Erlangung einer temporären Arbeitsbewilligung erteilt. Verlorenes Wohlstandspotenzial!
Überhaupt der Arbeitsmarkt: Zunehmend erfolgt eine gefährliche Vermengung der Arbeitsmigrationsthematik mit aussenwirtschaftspolitischen Fragen. Es ergeht der Ruf nach einem Mehr an Schutzmechanismen des einheimischen Arbeitsmarktes, dazu kommen generell protektionistische Strömungen. Über allem liegt der Schattenwurf der ungelösten Europafrage. Im vergangenen Jahr sind erstmals mehr inländische Arbeitskräfte ausgeschieden als neu in den Arbeitsmarkt eingetreten. Der Fachkräftemangel spitzt sich im Jahresrhythmus zu – bis 2035 werden alle Babyboomers pensioniert sein. Doch statt dass die Arbeitsverhältnisse flexibilisiert werden, droht eine Vergewerkschaftung des Arbeitsmarktes.
Die zum Ausgleich zur Personenfreizügigkeit eingeführten flankierenden Massnahmen wurden seit 2004 in sieben Etappen verschärft. Den allgemeinverbindlichen GAV, die die traditionelle Absprache zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften durchbrechen, ist eine rasant zunehmende Anzahl Arbeitnehmer unterstellt: Zwischen 2003 und 2014 stieg diese von 376’000 auf 992’000. Paradox: Obwohl die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten im Verhältnis zu jener der Arbeitnehmer weiter abnimmt, wird der liberale Arbeitsmarkt immer mehr eingeschränkt.
Der Schutzwall gegen alles, was von aussen kommt, wird auch mental ausgebaut. Statt dass den faktischen wirtschaftlichen Verflechtungen mit den europäischen und ausserkontinentalen Handelspartnern ein stabiles, rechtlich verlässliches Fundament verschafft wird, erfolgt neuerdings unter dem Deckmantel der Diskussion um Kleinstaaten aus protegierten Werkstätten heraus eine weitere argumentative Abgrenzung.
Denkverbot
Da werden kleine Länder wie die direktdemokratische Schweiz in einem Zug mit dem autokratisch regierten Singapur als Erfolgsmodelle gegenüber Grossmächten und supranationalen Organisationen gepriesen und gezielt helvetische Souveränitätsverlustängste bewirtschaftet. Die europäische Hauptstadt wird als zentralistischer Moloch gegeisselt, der alle Mitgliedstaaten dem Joch der systemischen Gleichmacherei unterstellen will. Die Heterogenität der politischen Kulturen und demokratischen Entscheidungsfindungen innerhalb der europäischen Staaten wird negiert, die von vorneherein beschränkte Macht einer supranationalen Organisation wie der EU, die sich zurzeit gerade in der Migrationsfrage manifestiert, ausgeblendet. Herrscht mittlerweile ein unausgesprochenes Denkverbot in der Ausgestaltung des zukünftigen politischen Verhältnisses der Schweiz zu ihrem wichtigsten Wirtschaftspartner, der EU, wie es jüngst der Oltner Literat Alex Capus insinuierte?
Klar ist jedenfalls, dass die europapolitische Vernunft nicht den gegenwärtigen eidgenössischen Diskurs bestimmt. Dieser wird vielmehr dominiert von «fremden Richtern», und man unterliegt einem zweifachen Trugschluss: Erstens kennt die Schweiz diese bereits mit der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit der WTO, wo sie wiederholt erfolgreich ihre Interessen als Kleinstaat verteidigen konnte. Zweitens ist die Relation zwischen politischen Körperschaften – gleich wie die unternehmerische Entwicklung – stets dynamisch, ein Beharren alleine auf dem Status quo würde gleich wie beim Verharren auf der unternehmerischen Produktepalette mittelfristig zu schmerzlichen Wettbewerbsnachteilen führen.
Dass die eigentliche Geburtsstunde der Schweizer Neutralität und Unabhängigkeit 1815 am Wiener Kongress ihren Ursprung hatte, an dem ausländische Staaten wesentlich dazu beitrugen, die zerstrittenen kantonalen Interessenvertreter in einem einzigen Verfassungswerk für die Schweiz zu vereinen, wird in der historischen Rückschau sowieso ausgeblendet. In der ganzen Diskussion rund um die Rolle der Schweiz in Europa nicht hilfreich ist, dass die politische Schweiz seit Ende des Ost-West-Blockdenkens ihren Kompass nicht neu justiert hat, vielmehr ist eine gewisse Rat- und Orientierungslosigkeit zu konstatieren.
Zugleich wird fleissig an der regulatorischen Abschottung der Schweiz gewerkelt. Was die anstehenden Initiativen etwa zur Ernährungssouveränität und zur Selbstbestimmung angeht, wird ausser acht gelassen, dass bei der ersteren in Zeiten globalisierter Wertschöpfungsketten die umfassende Nahrungsmittelautonomie aus Konsumentensicht ein Scheingefecht darstellt und bei der letzteren selbstredend auch international stabile Regelwerke als wirtschaftlich existenzieller Faktor für die Schweiz nötig sind. Die Konzernverantwortungsinitiative wie auch die Fair-Food-Initiative haben eine Tendenz zum Rechtsimperialismus schweizerischer Prägung. «Switzerland first» andersherum? Die irrige Annahme breitet sich offensichtlich auch hierzulande aus, dass Gemeinschaften sich ausschliesslich national definieren lassen, wie es der britische Historiker Timothy Garton Ash beobachtet.
Reformstau
Angesichts des vorherrschenden Diskurses ist in Erinnerung zu rufen, dass aufgrund des beschränkten einheimischen Binnenmarktes und der starken Exportorientierung von KMU wie multinationaler Unternehmen der ungehinderte Zugang zu ausländischen Märkten zur effektiven Prosperitätssicherung unabdingbar bleibt. Der vielfach retrospektive Fokus und die dogmatisch geführten Diskussionen dürfen nicht davon ablenken, dass im Landesinnern dringender Reformbedarf besteht.
Das betrifft nicht nur das überbordende Regulierungsdickicht und die staatliche Umverteilung von mittlerweile fast 45 Prozent der Wertschöpfung. Der innere Reformstau zeigt sich auch bei der Altersvorsorge oder in der Ausgestaltung einer international kompetitiven Unternehmensbesteuerung. Die nachhaltige Gleichstellung zwischen Mann und Frau wird auf die lange Bank geschoben, solange nicht die Individualbesteuerung eingeführt wird. Dass ausländische Direktinvestitionen in der Schweiz in zahlreichen staatlich geschützten Branchen wie etwa dem Energiebereich und dem Verkehrswesen unterdurchschnittlich ausfallen, ist Teil des falsch verstandenen Heimatschutzes.
Schweizer Unternehmen haben in den letzten zehn Jahren Zehntausende von Stellen im europäischen Ausland geschaffen. Dort steigen die Direktinvestitionen rasant an. Demgegenüber nahmen ausländische Direktinvestitionen in die Schweiz überdurchschnittlich ab. Der Schweiz wird dieses Jahr ein BIP-Wachstum von 1,4 Prozent prognostiziert, in der Euro-Zone wird ein Durchschnitt von 2,0 Prozent erwartet. Das müsste ein genügender Weckruf für die Politik sein. Statt dass man mit dem Finger auf das Ausland zeigt, sollte der Reformbesen zuerst im Inland kehren. Sonst droht der Absturz vom schmalen Grat zwischen Selbstgefälligkeit hin zur Selbstüberschätzung.
Dieser Artikel ist am 21. August 2017 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.