In dem kürzlich erschienenen Diskussionspapier «Mehr Subsidiarität statt falscher Solidarität. Ein Aufruf zu Reformen in der EU»  hält Avenir Suisse fest, dass die EU mit Blick auf die 2010 ausgebrochene Euro-Krise in  schwieriger Zeit Handlungsfähigkeit und Führungskraft bewiesen hat. Es ist ihr gelungen, mit der Doppelstrategie aus Finanzhilfe und Spardiktat sowie der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts und dem neuen Fiskalvertrag einen Zusammenbruch des europäischen Finanzsystems und einen Absturz in eine Depression  zu verhindern. Gleichzeitig wurde mit der Bankenunion ein wichtiger Schritt zu einem stabilen Finanzsystem gemacht. Auch wenn die Krise im Euro-Raum noch nicht überwunden ist, wurden doch in einigen Mitgliedländern wichtige Strukturreformen und Haushaltskonsolidierungen eingeleitet.

Natürlich kann niemand sagen, wie es ohne die zahlreichen Notmassnahmen – vor allem auch der Europäischen Zentralbank (EZB) – herausgekommen wäre.  Wenn die Wirtschaftsentwicklung im Euro-Raum sechs Jahre nach Ausbruch der globalen Finanzkrise und trotz massiven geldpolitischen Spritzen der EZB immer noch hinter derjenigen in den übrigen Industrieländern zurückbleibt, weist dies auf nach wie vor bestehende strukturelle Probleme hin. Der EU-Kommission kommt bei der Anwendung des neuen makroökonomischen Regelwerks auf dem Weg zu einer grösseren Wettbewerbsfähigkeit deshalb eine grosse Bedeutung zu.

Bewährungsprobe für die neue «Economic Governance»

Zwar ist die erweiterte «Economic Governance» der EU im Vergleich zum früheren Regelwerk ohne Zweifel  noch komplizierter geworden. Viel  wichtiger ist  aber die Frage, ob sie überhaupt zur  Anwendung kommt und im Ernstfall Biss haben wird. Genau dies wäre die Aufgabe der neuen EU-Kommission. Es macht den Anschein, dass sie diesen ersten wichtigen Test leider nicht bestehen wird, tut sie sich doch mit der Anwendung und Einhaltung der Vereinbarungen schwer. Zwar rügte die EU-Kommission Ende November im Rahmen der jährlichen Bewertung der Budgetpläne für 2015 ganze sieben Länder (Belgien, Frankreich, Italien, Malta, Österreich, Portugal und Spanien) wegen mangelnder Haushaltsdisziplin, sah letztlich aber von weiteren Schritten, die bis zu Strafverfahren gehen können,  ab. Was heisst das institutionell und wirtschaftspolitisch für die Zukunft?

Die EU-Kommission ist die Hüterin der EU-Verträge. Sie hat dafür zu sorgen, dass die vielfältigen Verpflichtungen, welche die Mitgliedstaaten im Rahmen der neuen «Economic Governance» eingegangen sind, auch eingehalten werden. Dafür sind ihr auch neue Durchgriffsrechte eingeräumt worden. Werden Verstösse von Anfang an geduldet, heisst das nichts Gutes für die Disziplin. Zu welchen makroökonomischen Verwerfungen dies führen kann, hat die permanente Missachtung der Maastricht-Kriterien durch die Mitgliedstaaten gezeigt. Zudem würde die EU-Kommission eine wichtige Gelegenheit verpassen, um sich gegenüber den Mitgliedstaaten Achtung und Respekt zu verschaffen. Jede Führungskraft in Politik und Wirtschaft weiss, dass die ersten Wochen für das Ansehen und die Reputation entscheidend sind.  Die EU-Kommission drohe, zu einer weichen Bettvorlage für die chronischen europäischen Schuldenstaaten zu werden, stellte ein Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest.

Wachstum braucht Vertrauen

Wachstum und Arbeitsplätze entstehen letztlich in der Privatwirtschaft. Dort muss investiert werden, statt reflexartig immer neue öffentliche Investitionen in Strassen und Brücken zu fordern. Hierfür muss die öffentliche Hand aber die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Mit diesen deutlichen Worten äusserte sich unlängst auch der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, in einem Spiegel-Interview.

Die Situation ist grotesk. Einerseits gehen die EU-Mitgliedländer neue makroökonomische Verpflichtungen ein, anderseits diskutieren sie über eine Aufweichung der Regeltreue und zusätzliche fiskalpolitische Unterstützung schwacher  Mitgliedstaaten durch stärkere. Vor allem Frankreich und Italien machen immer wieder geltend, die geschwächten Mitgliedländer könnten nicht durch eigene Kraft ihr Potenzialwachstum steigern.

Unabhängig von diesen Diskussionen gibt es einige  unumstössliche wirtschaftspolitische Erkenntnisse und Erfahrungen. Wachstum braucht Vertrauen in die Wirtschaftspolitik und Vertrauen baut auf Glaubwürdigkeit in Politik und Verwaltung. Wohlstand ist niemals ein Selbstläufer, sondern braucht als Basis eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Deshalb muss die fiskalische Konsolidierung Hand in Hand gehen mit wachstumsfördernden Reformen, um eine Schuldenspirale aus niedrigem Wachstum, hoher Verschuldung und steigenden Zinsen zu verhindern. Nur so lässt sich bei Konsumenten, Unternehmen und Investoren anhaltendes Vertrauen und stabile Zuversicht schaffen.

Bekanntlich steht den übermässig verschuldeten Euro-Ländern die Möglichkeit der Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung nicht mehr zur Verfügung. Wenn die EU Umschuldungen, Schuldenerlasse und Vermögensteuer verhindern will, gibt es zur strikten Einhaltung des erneuerten Stabilitäts-und Wachstumspakts und des Fiskalvertrags keine Alternative. Das sollte auch die neue EU-Kommission wissen.