«Mehr Subsidiarität statt falscher Solidarität: Ein Aufruf zu Reformen in der EU». Wie der Titel besagt, befasst sich das neue Avenir-Suisse-Diskussionspapier mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage der EU und ihrer zukünftigen Entwicklung. Die Publikation ist das Resultat eines Projekts von «Businesseurope», dem Dachverband der europäischen Arbeitgeber. Das Diskussionspapier sucht einerseits nach Auswegen aus der aktuellen Krise, hinterfragt aber auch den langfristigen Ordnungsrahmen der Gemeinschaft – vor allem jenen der Europäischen Währungsunion.
Die Autoren Alois Bischofberger, Samuel Rutz und Rudolf Walser zeichnen zu Beginn den Werdegang der Krise nach, in die die EU trotz hehren Absichten und Zielen geraten ist. Mit ihrer Doppelstrategie aus Finanzhilfe und Spardiktat habe sie aber in schwierigen Zeiten Führungskraft bewiesen. Gleichwohl sei die Krise noch nicht überwunden, und die EU leide heute nicht nur unter überschuldeten Staatshaushalten, sondern auch unter der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Mitgliedstaaten. Zudem laufe die Europäische Zentralbank Gefahr, mit ihrem geldpolitischen Mandat in Konflikt zu geraten. Es sei ungewiss, ob der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Fiskalpakt nicht nur Zähne zeigen, sondern im Ernstfall auch wirklich Biss haben werden. Das komplizierter und intransparenter gewordene Regelwerk und die vor allem in Frankreich und Italien wieder aufflammende Diskussion über die angeblich verfehlte Austeritätspolitik weckten Zweifel.
Aber wohin kann sich die EU in Zukunft entwickeln, wenn sie ihre Wirtschaft und ihre Institutionen stärken will? Grundsätzlich bieten sich vier Möglichkeiten an:
- Die Schaffung einer europäischen Fiskalunion mit einer europäischen Wirtschaftsregierung.
- Der Ausbau der Zusammenarbeit nach Massgabe der variablen Geometrie.
- Die Stärkung des Maastricht-Vertrages und die Ergänzung der Währungsunion um eine Bankenunion (Maastricht 2.0).
- Eine konsequente Subsidiaritätspolitik.
Die erste Option, die Fiskalunion mit einer europäischen Wirtschaftsregierung, erachtet Avenir Suisse auf absehbare Zeit als unrealistisch. Alle andere Wege stehen hingegen offen: Die EU verfügt über den nötigen rechtlichen Handlungsrahmen und die Instrumente, um eine Politik der variablen Geometrie, die Stärkung des Maastricht-Vertrags oder eine Subsidiaritätspolitik zu verfolgen. Unabhängig davon, welcher Weg oder welche Kombination von Möglichkeiten gewählt wird, braucht eine erfolgreiche Reformpolitik zweierlei: Einen generellen Konsens über die Ziele und eine bessere Koordination der politischen und wirtschaftlichen Ziele der EU mit den Präferenzen und dem Willen der Bürgerinnen und Bürger.
Entscheidend ist letztlich der politische Wille, das vorhandene Regelwerk trotz eingetrübten Konjunkturaussichten und geopolitischen Spannungen konsequent anzuwenden. Dies ist für die Rückgewinnung des Vertrauens der Wirtschaftsakteure und für die Stärkung der Glaubwürdigkeit der EU-Verantwortlichen wichtiger als immer neue wohlklingende Visionen und utopische Ziele. Auf einer solchen Grundlage lässt sich ein identitätsstiftendes Europa leichter entwickeln. Nach Überzeugung von Avenir Suisse erhielte die EU vor allem durch eine konsequente und systematische Politik der Subsidiarität und der variablen Geometrie eine Perspektive, die zur Vielfalt Europas passt, liegt doch darin letztlich der Charme und die Stärke dieses Kontinents.