Mit dem Kartellgesetz soll der wirksame Wettbewerb geschützt werden. Doch tut es das heute noch und – falls ja – in genügendem Ausmass?

Einerseits wird immer wieder kritisiert, dass die unter das Kartellgesetz fallenden Sachverhalte in jüngster Vergangenheit ausgedehnt und formalisiert worden seien. Dabei besteht die Gefahr, dass eine zunehmend strengere und formbasierte Auslegung des Wettbewerbsrechts mit einem ökonomisch und rechtsstaatlich fragwürdigen «Over-enforcement» einhergeht. Andererseits wird moniert, es lasse sich ein Trend beobachten, das Kartellgesetz für Ziele zu missbrauchen, die nicht dem traditionellen Schutz des Wettbewerbs dienen. Als Beispiel hierfür wird etwa die Annahme der Fair-Preis-Initiative genannt, die mit der Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht ins Kartellgesetz einherging, notabene einer strukturpolitisch motivierten Norm.

Anlässlich des 12. Wettbewerbspolitischen Workshops von Avenir Suisse diskutierten Referentinnen und Teilnehmer darüber, ob das Kartellgesetz dem verfassungsrechtlichen Ziel noch gerecht werde, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Wettbewerbsbeschränkungen zu bekämpfen.

Karen Horn zeigte, beginnend mit dem 1776 erschienenen Klassiker «The Wealth of Nations» von Adam Smith (Bild), wie sich das Verständnis von und für Wettbewerb über die Zeit entwickelt hat. (Wikimedia Commons)

Von Adam Smith zur Digitalökonomie

In einem ersten Inputreferat nahm Karen Horn, Honorarprofessorin an der Universität Erfurt, die Teilnehmer auf eine kleine Reise durch die ökonomische Ideengeschichte mit und zeigte, beginnend mit dem 1776 erschienenen Klassiker «The Wealth of Nations» von Adam Smith, wie sich das Verständnis von und für Wettbewerb über die Zeit entwickelt hat. Seither fand eine rege Debatte über dessen Rolle, Wirkung und Aufgabe statt. Bis heute prägend ist insbesondere die in den 1970er und 1980er Jahren geführte Diskussion zwischen der eher interventionsfreudigen «Harvard School» und der eher zurückhaltenden «Chicago School», die eine konsequente Einzelfallbetrachtung fordert.

Wie Karen Horn festhielt, haben sich die Positionen der Vertreter von Harvard und Chicago School im Laufe der Zeit einander angenähert, denn man habe voneinander gelernt und Mängel in den jeweiligen Modellwelten ausgeräumt. Dies schlage sich in der wettbewerbspolitischen Praxis unter anderem darin nieder, dass heute in den meisten Ländern eine Mischung aus «Per-se»-Regeln (grundsätzliche Verbote) und «Rule of reason» (behördliche Einzelfallentscheide) zur Anwendung komme. Eine neue Herausforderung stelle nunmehr die Digitalökonomie dar, die von anderen ökonomischen Gesetzmässigkeiten geprägt sei als die reale Ökonomie, weshalb es auch anderer wettbewerbspolitischer Vorkehrungen gegen die Zusammenballung von wirtschaftlicher Macht bedürfe.

Überlegungen zum Umgang mit den digitalen Plattformen stellte auch Stefan Bühler an, der als Professor für Angewandte Mikroökonomie an der Universität St. Gallen lehrt. Auf der internationalen Ebene setze sich zusehends die Ansicht durch, Wettbewerbspolitik leide im digitalen Bereich unter einem «Too little too late»-Problem. Entsprechend zeichne sich in der Digitalökonomie ein potenzielles «Under-enforcement» ab, dem weltweit mit Ex-ante-Regulierung begegnet werde. Weitgehende Einigkeit bestand in diesem Zusammenhang zwischen Referenten und Teilnehmern, dass sich die Schweiz diesem Themenkomplex noch viel zu wenig angenommen habe.

Anlässlich des 12. Wettbewerbspolitischen Workshops von Avenir Suisse diskutierten Referentinnen und Teilnehmer darüber, ob das Kartellgesetz dem verfassungsrechtlichen Ziel noch gerecht werde. (AvS)

Over-enforcement vs. Misguided enforcement

Monique Sturny, Partnerin bei Walder Wyss und Expertin für Wettbewerbsrecht, hob in ihrem Inputreferat einerseits die Errungenschaften des heutigen Kartellrechts hervor. Gerade die Gesetzesrevision von 2003, die u.a. die direkte Sanktionierung gewisser Kartellrechtsverstösse einführte, habe einen Mentalitätswandel bewirkt und dazu geführt, das Kartellrecht als ein unternehmerisches Kernrisiko wahrzunehmen. Entsprechend stark seien heute die Compliance-Anstrengungen. Andererseits sei jedoch tatsächlich eine zunehmende Ausdehnung und Formalisierung der kartellrechtlichen Tatbestände durch Behörden und Gerichte zu beobachten. Sachverhalte und schädliche Auswirkungen müssen in vielen Fällen nicht mehr nachgewiesen werden, was die Gefahr eines ökonomischen und rechtsstaatlichen «Over-enforcement» berge und zu einer fragwürdigen «Over-compliance» führe. Diese gehe mitunter so weit, dass Unternehmen auf eigentlich effiziente Verhaltensweisen verzichten.

Für Stefan Bühler liegt das Problem weniger in einem generellen «Over-enforcement». Vielmehr ortet er ein «Misguided enforcement». Damit sind kartellrechtliche Intervention gemeint, die nicht überzeugend erklärt werden können, weil sie in sich widersprüchlich sind oder auf keiner konsistenten Schadenstheorie basieren. Gerade bei vertikalen Abreden, aber auch etwa in der heutigen Fusionskontrolle sei die Gefahr von «Misguided enforcement» gross und real. Verschiedene Voten in der anschliessenden Diskussion stützten diese Einschätzung. Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass politische Vorstösse wie die Motion Français oder die Motion Wicki bis zu einem gewissen Grad auch als Reaktion auf die als unbefriedigend wahrgenommene Entwicklung der kartellrechtlichen Rechtsprechung interpretiert werden können.

«Hipster antitrust» – war die Schweiz schon immer «hip»?

Schliesslich kam auch «Hipster antitrust» als neuster internationaler Trend zur Sprache. Dabei handelt es sich um eine Wettbewerbspolitik, die nicht primär das Wohl des Konsumenten ins Zentrum stellt. Vielmehr wird versucht, eine bestimmte, politisch genehme Marktstruktur zu schaffen. Wie Stefan Bühler feststellte, war die Schweizer Wettbewerbspolitik in gewisser Weise schon immer «hip», denn das Kartellgesetz hat seit jeher zum Zweck, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Wettbewerbsbeschränkungen zu bekämpfen. Einen spezifischen Fokus auf die Konsumentenwohlfahrt gab es in der Schweiz somit bereits in der Vergangenheit nicht.

«Hipster antitrust» – zumindest so wie es heute in den USA diskutiert wird – scheint jedoch weit über die Frage nach dem korrekten Wohlfahrtsstandard (Konsumenten vs. Gesamtwirtschaft) in der Wettbewerbspolitik hinauszugehen. Vielmehr handelt es sich um eine politische und teilweise zutiefst populistische Debatte: So werden etwa grosse Technologieunternehmen für die wachsende Ungleichheit verantwortlich gemacht oder die Stagnation der Löhne auf die angebliche Nachfragemacht gewisser Unternehmen (Monopsone) zurückgeführt. Für gewisse Kreise führt Marktmacht sogar zu einer direkten Bedrohung der Demokratie selbst. Die Befürworter von «Hipster antitrust» sprechen sich deshalb für eine Politisierung des Kartellrechts aus – es soll nicht mehr einfach den Wettbewerb schützen, sondern für die Erreichung anderer Ziele herangezogen werden: sei es der Schutz der Umwelt oder der Arbeitsnehmer, die Medienvielfalt oder neuerdings sogar die Bekämpfung der Inflation.

Darüber, dass eine Instrumentalisierung des Kartellrechts für andere Zwecke als den Schutz des Wettbewerbs problematisch ist, bestand unter den Referenten und Teilnehmern weitgehend Konsens. Zu Recht erinnerte Karen Horn in diesem Zusammenhang an die gute alte Tinbergen-Regel: Pro Ziel ein Instrument.

Zu den Präsentationen der Referenten: Karen Horn, Stefan Bühler, Monique Sturny.