Dramatisch tönte es Ende Oktober aus der obersten Schweizer Gewerkschaftszentrale SGB: Die Einkommensschere habe sich drastisch geöffnet. Zwar kommt auch der SGB zur Einsicht, dass die untersten Einkommen aufgeholt haben. Trotzdem wird moniert, wenn jemand mehr Geld in der Tasche habe, dann die Topverdiener. Damit sei der soziale Zusammenhalt gefährdet. Die gewerkschaftliche Rezeptur ist altbekannt: Lohnerhöhungen, mehr Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen, mehr Allgemeinverbindlicherklärungen von Gesamtarbeitsverträgen, weniger Möglichkeiten zur Temporärarbeit.

Damit diese Postulate argumentativ einigermassen aufrechterhalten werden können, redet der «Verteilungsbericht» des SGB erfreuliche Fakten klein. Unser Land weist eines der tiefsten Niveaus von Lohndisparität aller OECD-Länder aus. Die Einkommen haben sich in den letzten Jahren nicht nur mit dem zunehmenden Alter, sondern auch im Vergleich zwischen den Generationen positiv entwickelt. Die Medianeinkommen jeder Altersgruppe sind real gestiegen.

Seit Ende der Finanzkrise 2012 erhöhten sich die tiefsten Löhne gar am meisten, real um rund 12 Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die sehr hohen Löhne deutlich weniger schnell an, nur um rund 5 Prozent. Der neokonservativen Gewerkschaftsdoktrin folgend wird konsequent ausgeblendet, dass der Anteil der höchsten Einkommen am Gesamteinkommen in den letzten Jahren nahezu unverändert blieb. Zugleich schliesst sich erfreulicherweise die Lohnschere zwischen Frauen und Männern weiter, weil die Qualifikationen der Frauen laufend zunehmen.

Schutzwälle mögen in manchen Fällen nützlich sein, aber oft blockieren sie einfach. (Wikimedia Commons)

Warum dann all diese Narrative, die wenig mit den Realitäten auf dem Arbeitsmarkt gemeinsam haben, dafür aber umso mehr einer Neidkultur Vorschub leisten? Hellhörig müsste machen, dass der Gewerkschaftsbund im gleichen Atemzug, in dem er noch mehr strukturelle Einschränkungen des Arbeitsmarktes fordert, stolz ausführt, dass die Zahl der Gesamtarbeitsverträge und der allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge erhöht werden konnte – trotz der beklagten Negativtendenz in Europa! Mit diesen Versuchen zur «Vergewerkschaftung» von immer mehr Branchen werden die Schutzwälle für die «Insider» weiter ausgebaut.

Die negativen Auswirkungen zu tragen haben Berufs- oder Quereinsteiger, erschweren doch Mindestlöhne den Weg in den Arbeitsmarkt oder den Berufswechsel. Benachteiligt werden also genau diejenigen, die die Arbeitnehmervertreter angeblich schützen wollen. Für die soziale Kohäsion hierzulande ist die Effizienz des Arbeitsmarktes bedeutender als weitere Versuche zur strukturellen Einschränkung.

Dieser Text ist am 8. 11. 2018 in der «Handelszeitung» erschienen.