Die Debatte um eine BVG-Reform dreht sich um Fragen wie die Senkung des Umwandlungssatzes, die Kompensationsmassnahmen für eine Übergangsgeneration und die Besserstellung tieferer Einkommen. Die Zeitschrift «Schweizer Personalvorsorge» hat ein Streitgespräch zwischen Salomè Vogt, Leiterin von Avenir Jeunesse, und Eliane Albisser, Geschäftsführerin von PK-Netz, publiziert, das wir nachfolgend mit freundlicher Genehmigung der Redaktion wiedergeben:

«Schweizer Personalvorsorge»: Wie sehen Sie aktuell in der Schweizer Altersvorsorge das Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung und Solidarität?

Salomè Vogt: Die Idee der Schweizer Vorsorge ist, dass man eine geteilte Verantwortung hat innerhalb der drei Säulen: In der 1. Säule viel Solidarität, in der 2. Säule weniger Solidarität, und die 3. Säule ist ganz eigenverantwortlich. Solidarität funktioniert nur mit Eigenverantwortung. Menschen müssen auch innerhalb eines solidarischen Systems eine gewisse Eigenverantwortung wahrnehmen. Sonst ist es ein Leben auf Kosten anderer.

Wie sehen Sie dieses Gleichgewicht, Frau Albisser?

Eliane Albisser: Für das PK-Netz steht hinter dem Begriff «Eigenverantwortung» das Wort «Individualisierung» und dahinter der Begriff «Entsolidarisierung». Dieser Begriff hat in der 2. Säule als Sozialversicherung aber nichts zu suchen. Ich finde, die Frage ist falsch gestellt: Wir müssen kein Gleichgewicht suchen. Solidarität ist die Grundidee der beruflichen Vorsorge. Einer beruflichen Vorsorge, die Risiken kollektiv absichert und damit auch höhere Anlagerisiken und längerfristige Anlagestrategien eingehen kann als einzelne Versicherte. Der Fokus muss sein, wie wir die Renten sicher gewährleisten können, mit dem entsprechenden Verfassungsauftrag im Hinterkopf. Um dieses Ziel für alle Erwerbstätigen zu erreichen, nämlich die Fortführung der gewohnten Lebensweise im Alter, braucht es solidarische Instrumente.

Vogt: Diese gewohnten Lebensumstände sind sehr individuell. Bis zu einem gewissen Punkt muss man auch Eigenverantwortung wahrnehmen, um den individuellen Lebensstandard nachher weiterführen zu können.

Frau Vogt betont, dass Solidarität nur mit Eigenverantwortung funktioniert. Wie stehen Sie dazu?

Albisser: Wenn man sagt, dass sich alle eigenverantwortlich im Arbeitsmarkt bewegen können, muss man aufpassen. Wenn man durchgehend voll erwerbstätig ist und einen hohen Lohn hat, resultiert daraus auch eine hohe Pensionskassenrente, das ist klar. Die Realität ist aber so, dass viele Menschen auch tiefe Einkommen haben und zudem gerade Frauen viel wichtige Betreuungs- und Freiwilligenarbeit leisten, was im Alter dann negative Folgen für die Rentenhöhe hat. Wir müssen diese Lebensrealitäten unbedingt auch immer mitdenken.

Vogt: Meine Überlegung bezog sich auf die Solidaritäten innerhalb des Systems. Beispielsweise, es mag makaber klingen, zwischen denen, die länger leben, und denen, die früher sterben. Zwischen Rentnern mit und ohne Kinder, Singles und Verheirateten. Damit ein solches Konstrukt erhalten bleiben kann, braucht es ein gewisses Mass an Eigenverantwortung. Wenn ich klettern gehe mit einer Gruppe, sind wir alle an einem Seil angebunden. Aber jeder leistet seinen Beitrag zur Sicherheit, indem er aufpasst und trainiert ist. Man kann sich nicht nur aufs Seil verlassen.

Salomè Vogt, Avenir Jeunesse (l.) und Eliane Albisser, PK-Netz.(pd)

Bei Eigenverantwortung denken Sie nicht an Entsolidarisierung?

Vogt: Nein. Ich finde es problematisch, wenn man Eigenverantwortung als Egoismus und Entsolidarisierung hinstellt. Für mich bedeutet Eigenverantwortung, dass ich in einer Gesellschaft mit meinem Benehmen Sorge für alle anderen trage. Das ist auch ein wichtiger Punkt im liberalen Gedankengut: Es bedeutet nicht, dass jeder für sich selber schaut und der Stärkere sich durchsetzt.

Werden wir konkret: Führt ein guter Reformweg im BVG über mehr Eigenverantwortung, indem etwa die Versicherten mehr Entscheide selber treffen können, oder über mehr Solidarität, beispielsweise eine kollektive Finanzierung der Kompensation einer Umwandlungssatzsenkung?

Albisser: Wir haben endlich einen guten Reformvorschlag auf dem Tisch, der von den Sozialpartnern ausgehandelt wurde. Gefragt ist weiterhin Solidarität, die aber transparent sein darf und muss. Wir unterstützen eine Senkung des Umwandlungssatzes, aber nur, weil im aktuellen Vorschlag echte Kompensationsmassnahmen vorgesehen sind, in erster Linie der Rentenzuschlag. Diese sogenannte Umlagekomponente wird sehr kontrovers diskutiert und gerne als systemwidrig kritisiert. Dabei wird allerdings vergessen, dass Umverteilung in der 2. Säule nichts Neues ist, es gab sie in der Vergangenheit immer wieder. Beispielsweise gab es bei der Einführung des BVG-Obligatoriums für die Eintrittsgeneration eine solidarisch finanzierte Rentenverbesserung. Ausserdem werden die Absicherung bei Insolvenz oder Zuschüsse für ungünstige Altersstrukturen bis heute im Umlageprinzip über den Sicherheitsfonds finanziert.

Welche Stossrichtung soll die Reform Ihrer Meinung nach haben, Frau Vogt?

Vogt: Seitens Avenir Jeunesse sind wir der Meinung, dass das Vorsorgemodell mit den drei verschiedenen Säulen, die unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sind, so beibehalten werden sollte. Entsprechend ist es wichtig, keine «AHV-isierung» in die 2. Säule reinzubringen. Man muss der Fairness halber eine Lösung für die Personen kurz vor der Pensionierung solidarisch finanzieren, weil diese nicht kurzfristig umdisponieren können. Woran wir uns im vorliegenden Vorschlag stossen, ist, dass diese Übergangsrenten nach 15 Jahren – was bereits eine relativ lange Zeit ist – nicht wieder bei null sind, sondern dass es offenbleibt, wie es weitergeht. Aktuell werden 7 Milliarden Franken pro Jahr in der 2. Säule umverteilt. Die Solidarität zwischen Jungen und Alten ist damit ausgereizt und muss nicht noch mehr forciert werden. Hier kann man sich durchaus auch weiterreichende Gedanken machen.

Wie meinen Sie das?

Vogt: Eine junge Person, die in die Arbeitswelt eintritt, muss für Versprechen aufkommen, die einem jetzigen Rentner vor 40 Jahre gemacht wurden. Wir haben heute ganz andere Umstände als bei der Einführung des BVG. Im Schnitt wechsle ich alle fünf Jahre den Job, damals blieb man ein Leben lang beim selben Arbeitgeber und hatte dieselbe Pensionskasse. Es wäre doch wichtig, die Individuen stärker einzubeziehen etwa in die Frage, wie ihr Geld angelegt werden soll. Denkbar ist für mich, die Pensionskasse an den Arbeitnehmer statt an den Arbeitgeber zu binden.

Ist das Verständnis eines Versichertenkollektivs in einer Kasse etwas antiquiert angesichts der heutigen Arbeitswelt, Frau Albisser?

Albisser: Dem widerspreche ich. Erwerbsbiografien haben sich wohl verändert, aber Stellenwechsel sind nicht ein Problem für das Funktionieren der 2. Säule. Das PK-Netz steht klar hinter der paritätisch geführten beruflichen Vorsorge. Es ist zielführend, wenn gut ausgebildete Stiftungsrätinnen in den Anlageausschüssen beispielsweise auf nachhaltige Anlagestrategien für den gesamten Versichertenbestand hinarbeiten. Dieser Hebel ist viel effektiver als eine Individualisierung im Anlagebereich. Darüber hinaus ist eine kollektive Anlagestrategie individuellem Anlegen schlicht überlegen, weil Letzteres viel anfälliger auf Verwerfungen auf den Finanzmärkten ist. Ein Versicherungskollektiv kann Solidaritäten in den unterschiedlichsten Richtungen tragen, wie sie auch Frau Vogt angesprochen hat. Die Bindung der Vorsorgelösung an den Arbeitgeber darf nicht infrage gestellt werden.

Sie haben es als denkbar bezeichnet, dass die berufliche Vorsorge an den Arbeitnehmer statt an den Arbeitgeber gebunden wird. Befürworten Sie eine solche freie Pensionskassenwahl?

Vogt: Aber klar! Wenn ich mir den gesellschaftlichen und arbeitstechnischen Wandel überlege, ist es ein gangbarer Weg.

Wären die Versicherten diesem Entscheid gewachsen?

Vogt: Jeder Mensch trifft viel weitreichendere Entscheidungen, ob man heiratet oder nicht, Kinder in die Welt setzt oder nicht, da überlegt sich auch niemand, was das für Auswirkungen auf die eigene Vorsorge hat. Die Materie ist komplex, und es würde Unterstützung brauchen, das ist klar. Dafür gäbe es aber Intermediäre, wie wir das von Hypotheken kennen. Bei der Krankenkasse haben wir dieselben Fragestellungen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die sehr divers ist. Entsprechend sind auch die Ansprüche ganz unterschiedlich. Auch bei der Geldanlage: Die einen wollen sehr nachhaltig investieren, andere primär eine hohe Rendite. Wieso wissen alle viel zu wenig über die 2. Säule Bescheid? Weil das Wissen nichts nützt, man kann sowieso nichts ändern. Die wenigsten wählen den Arbeitgeber nach der Pensionskassenlösung aus. Wenn es einem wirklich etwas nützen würde, würde man sich auch besser informieren.

Frau Albisser, ist die freie Pensionskassenwahl eine Option, die Sinn ergeben könnte?

Albisser: Die freie Pensionskassenwahl ist die zu Ende gedachte Eigenverantwortung in der 2. Säule. Wenn man sich in der Branche umhört, ist der Widerstand allerdings gross. Interessanterweise auch bei Personen, die oft eine andere Haltung vertreten haben als wir. Die Grundidee der beruflichen Vorsorge ist die paritätische Führung über einen Stiftungsrat, der sich aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern zusammensetzt. Bei der freien Pensionskassenwahl droht bei den Leistungen eine weitere Nivellierung nach unten, da die heute noch oft vorhandene Identifikation des Arbeitgebers mit der Pensionskasse wegfallen würde.

Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift «Schweizer Personalvorsorge», Ausgabe 02/21 erschienen.