Die Schwächung des Multilateralismus, wie ihn die WTO (World Trade Organization) verkörpert, erhöht die Bedeutung eines dichten Netzes aus Freihandelsabkommen (FHA) für die Schweiz. Je dichter dieses Netz, desto agiler bleibt die Schweiz in einer Zeit, in welcher der Multilateralismus zunehmend in Frage gestellt wird, während Handelskriege und protektionistische Tendenzen Überhand nehmen.

Für die Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft ist es von zentraler Bedeutung, dass sie ihre handelspolitischen Verflechtungen auszubauen vermag. Unser FHA-Netz besteht derzeit aus Abkommen mit über 70 Ländern. Dazu gehören auch viele asiatische Staaten – etwa China, Singapur, Hongkong, Japan, Südkorea oder die Philippinen. Taiwan, der siebtwichtigste Exportmarkt für die Schweiz in Asien, ist allerdings nicht Teil dieses Netzes.

Politische Hürden einer tieferen wirtschaftlichen Integration

Weshalb die Schweiz bisher nicht mit Taiwan in Verhandlungen getreten ist, lässt sich vielmehr durch politische Gründe als durch wirtschaftliche Rationalität erklären. Taiwan wird von der Mehrheit der Länder nicht als eigenständigen Staat anerkannt, sondern gilt als Teilstaat der Volksrepublik China. Auch die Schweiz gehört zu den Ländern, welche die Ein-China-Politik konsequent verfolgen – dies bereits seit 1950. Trotz dieser fehlenden Anerkennung wäre es aber möglich, FHA-ähnliche Abkommen mit Taiwan abzuschliessen.

Erfolgreich vorgemacht haben dies 2013 bereits Singapur und Neuseeland. Beide verfügen seit 2013 über ein FHA-ähnliches Abkommen, ohne Taiwan als eigenständigen Staat anzuerkennen. Iimplizite Voraussetzung für solche Abkommen sind die Einhaltung der Ein-China-Politik und das Fehlen offizieller diplomatischer Beziehungen. Zudem verfügt die Schweiz auch über ein FHA mit Hongkong, ohne dass dies zwischen China und der Schweiz zu politischen Spannungen führen würde. «Vergleichbare» Situationen existieren zudem bei den Abkommen mit den Färöer-Inseln und der Palästinensischen Behörde – beides autonome Gebiete mit politisch umstrittener Staatlichkeit.

Die Bedeutung Taiwans als Handelspartner sollte nicht unterschätzt werden. Das Taipei World Financial Center in Taipeh. (Remi Yuan, unsplash)

Die wirtschaftliche Bedeutung Taiwans

Die Schweiz handelt bisher nur im Rahmen der WTO-Regeln mit Taiwan. Das Exportvolumen nach Taiwan entspricht rund einem Prozent der schweizerischen Gesamtexporte, der Handelsüberschuss beträgt eine halbe Milliarde Franken zu Gunsten der Schweiz. Natürlich wird der taiwanesische Markt von der schieren Grösse der Volksrepublik China überschattet. 5% der gesamten Schweizer Exporte gehen nach China, umgekehrt importiert die Schweiz 7% ihrer Warenimporte aus China. Damit ist das Handelsvolumen zwischen der Schweiz und China mehr als achtmal grösser als dasjenige mit Taiwan.

Man mag sich in der Schweiz zurecht fragen: Warum die jüngst auch im Rahmen der OBOR-Initiative so kooperativen chinesisch-schweizerischen Beziehungen einem politischen Risiko aussetzen und mit Taiwan in Verhandlungen treten? Die Bedeutung Taiwans als Handelspartner sollte aber auch vor diesem Hintergrund nicht unterschätzt werden.

Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: Betrachtet man das Handelsvolumen zwischen Taiwan und der Schweiz relativ zum Bruttoinlandprodukt oder zur Bevölkerung, suggeriert dies ceteris paribus engere wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Taiwan und der Schweiz als zwischen China und der Schweiz (vgl. Abbildung). Könnte man das Handelsvolumen 1:1 mit dem Bruttoinlandprodukt hochskalieren, würde Taiwan über ein doppelt so grosses Handelsvolumen mit der Schweiz verfügen wie China.

Noch deutlicher fällt das Experiment aus, wenn man die Bevölkerungsgrösse als Vergleichsindikator herbeizieht: hier käme man gar auf ein siebenmal grösseres Handelsvolumen, als die Schweiz und China es heute pflegen. Taiwan weiss aber nicht nur in Gedankenexperimenten zu glänzen, sondern auch mit harten Fakten: So verpasst die Insel gemäss Rangordnung der absoluten Wirtschaftsleistung nur knapp die Gruppe der G20, befindet sich im Global Competitiveness Report des World Economic Forum auf dem weltweit 13. Rang und gilt nicht zuletzt als eine der führenden Wirtschaften im Bereich Innovation.

Die konkreten Vorteile eines Abkommens

Mit einem Freihandelsabkommen mit Taiwan könnte die Schweiz ihre Exporte von geschätzten 47 Mio. US-Dollar Zollausgaben entlasten. Am meisten profitieren würde die hiesige Uhrenindustrie, gefolgt von verarbeiteten Landwirtschaftsgütern, Maschinen sowie chemisch-pharmazeutischen Produkten. Aufgrund der Komplementarität der beiden Landwirtschaftssektoren stehen die Chancen gut, dass das Abkommen nicht an innenpolitischen Partikularinteressen scheitern würde. Besonderes Potenzial für Zolleinsparungen im Landwirtschaftsbereich wird bei Zuckerwaren und Schokolade identifiziert. Von einem Abkommen profitieren könnten auch die Schweizer Milchproduzenten, die heute aufgrund der zollbefreiten neuseeländischen Milch auf dem taiwanesischen Markt im Nachteil sind. Neben diesen Vorteilen für die hiesige Exportindustrie liegt der geschätzte Wert der eingesparten Zollabgaben auf Importe aus Taiwan bei rund 9 Mio. US-Dollar.

Risiko von Vergeltungsmassnahmen aus China gering

Seit der Machtübernahme der Taiwan-Unabhängigkeitspartei im Jahr 2016 hat sich die Beziehung zwischen China und Taiwan wieder zugespitzt. China übt nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und militärisch Druck auf Taiwan aus. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie China auf FHA-Verhandlungen zwischen der Schweiz und Taiwan reagieren würde. Die wirtschaftlichen Vorteile eines Abkommens mit Taiwan müssen daher gegen die Wahrscheinlichkeit von Vergeltungsmassnahmen aus China abgewogen werden. Fühlt sich Peking vor den Kopf gestossen, kann dies in der Tat Konsequenzen haben. In Erinnerung bleibt der Fall Norwegen. Die bilateralen Beziehungen zwischen China und dem skandinavischen Staat waren nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an einen chinesischen Staatskritiker durch ein – wohlgemerkt von der norwegischen Regierung unabhängiges – Komitee zeitweise auf Eis gelegt.

Ein entscheidendes Kriterium ist, dass die Schweiz ihrem Pfad der Ein-China-Politik weiterhin treu bleibt und die Souveränität der Volksrepublik nicht in Frage stellt. Solange dies der Fall ist, muss kaum mit Vergeltungsmassnahmen gerechnet werden. Der Schweiz würde daher eine Portion mehr Mut guttun. Verhandlungen über ein FHA-ähnliches Abkommen mit Taiwan sollten zumindest in Betracht gezogen werden. Es darf nicht vergessen werden, dass China mit der Schweiz unter anderem auch strategische Interessen verfolgt. Die Volksrepublik wird sich die Einfallstore nach Europa kaum selber verschliessen wollen.