Erneut verschärfte der Bundesrat diese Woche die Covid-19-Massnahmen für die Schweiz massiv, um die weitere Ausbreitung des mittlerweile mutierten, hochansteckenden Virus einzudämmen. Die Rezepte dafür sind ähnliche wie im Frühling 2020: Schliessungen von Restaurants und Kulturbetrieben, Verbot von Sonntagsverkäufen, Ladenschliessungen, Homeoffice und eine Einschränkung privater Zusammenkünfte auf wenige Personen. Zwar sind weder Läden noch Restaurants mit Schutzkonzepten bedeutende Ansteckungsorte, doch mit dem um sich greifenden neuen Staatsglauben präferiert man den Weg mit weitgehenden behördlichen Auflagen und Einschränkungen der individuellen und wirtschaftlichen Freiheiten. Ausgeblendet werden die vielfachen negativen Auswirkungen infolge dieser Restriktionen. 

Taiwan: mehr Einwohner, weniger Covid-Fälle und höheres Wirtschaftswachstum

Aufgrund des globalen Charakters der Pandemie sind wir in der Lage, über unsere eigenen Grenzen hinaus zu blicken: Welche Massnahmen wurden andernorts umgesetzt, und wie gut haben sie funktioniert? 

Einen interessanten Vergleich liefert Taiwan. Sowohl die Schweiz wie auch Taiwan sind geografisch betrachtet klein, demokratisch organisiert und verfügen über einen international kompetitiven Exportsektor. Doch während die Schweiz 8,6 Millionen Einwohner zählt, sind es in Taiwan mit 23,6 Millionen fast dreimal so viele. 

Bemerkenswerterweise hat sich dieser Grössenunterschied aber nicht auf die Anzahl der Covid-Fälle ausgewirkt. Während in der Schweiz in der Spitze im November täglich über 8000 Fälle pro Tag gezählt wurden (7-Tage-Durchschnitt, seit Ausbruch der Pandemie knapp eine halbe Million Fälle), verzeichnete Taiwan nie mehr als 20 bestätigte Ansteckungen pro Tag und registrierte bisher nur wenig mehr als 800 Fälle. Dies trotz anfänglich mehr als 200 Flügen pro Woche aus China, darunter Direktflüge aus Wuhan. Die Schweiz registrierte bis dato über 8000 Todesfälle – Taiwan nur sieben. 

Nicht nur die Zahl der Covid-Fälle sind zwischen Taiwan und der Schweiz sehr unterschiedlich, auch die Auswirkungen auf die Wirtschaft. Für 2020 wird in Taiwan das Wirtschaftswachstum auf 2,5% geschätzt, angetrieben durch den Exportsektor. Die Ausfuhren erreichten einen neuen Rekord, vor allem dank gefragten 5GKomponenten, neuen Opportunitäten als Folge des Handelskriegs zwischen den USA und China, sowie von Ländern, die stark von Covid-19 betroffen waren und Lieferschwierigkeiten hatten. 

Für die Schweiz wird für 2020 ein Wachstumsrückgang von 3.5% angenommen. Dies ist in unserem Land die schwerste Rezession in 45 Jahren. Allein in den Monaten März und April gingen aufgrund des harten Lockdowns geschätzte 10% des Bruttoinlandprodukts verloren, im Dezember dürften die volkswirtschaftlichen Kosten zusätzlich gegen 10 Mrd. Franken betragen.  

Was sind die Gründe, die zu den unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben? Ein von Avenir Suisse organisiertes Webinar ergründete mögliche Antworten:

 

Zwei unterschiedliche Strategien im Kampf gegen das Virus

Europa und die Schweiz setzen auf Koexistenz. Sie gehen davon aus, dass man lernen muss, mit dem Virus zu leben. Es wird – in Abhängigkeit der Fallzahlen und Spitalkapazitäten auf Lockdowns gesetzt, um das Virus einzudämmen. Taiwan verfolgt stattdessen einen «Lock-out»-Ansatz, der das Virus ganz vom Land fernhalten soll. Nachfolgend die wichtigsten Eckpunkte der taiwanesischen Strategie: 

  1. Professionelles Krisenmanagement

Taiwan zog aus der für die Region verheerenden SarsEpidemie von 2003 wertvolle Lehren, die nun bei der Bewältigung von Covid-19 helfen. Politische Zuständigkeiten wurden klarer definiert und behördliche Kommunikationskanäle verbessert. Sars führte nicht nur zu einer steilen Lernkurve der Regierung, sondern sensibilisierte auch die Bevölkerung nachhaltig, sodass selbst strikte Massnahmen kaum zu grossen öffentlichen Diskussionen führen. Während bei uns der Zwang zum Tragen einer Maske vereinzelt als Verstoss gegen die individuelle Freiheit angesehen wird, vertrauen die Taiwanesen aufgrund der früher gemachten Erfahrungen den gesundheitspräventiven Anordnungen der Behörden. 

  1. Frühzeitige Reaktion

Die SarsEpidemie – der Erreger hat eine vielfach höhere Mortalitätsrate als Covid-19 – führte zur Implementierung eines umfassenden Warnsystems, um Ausbrüche eines neuen Virus rasch zu erkennen. Bereits im Dezember 2019 verstärkte die Insel die Grenzkontrollen, später wurde eine strikte Einreisequarantäne eingeführt und das Contact Tracing mittels modernster Technologie hochgefahren. Dank dieser frühen Reaktion war Taiwan damit dem Virus stets einen Schritt voraus. 

  1. Funktionierendes Contact Tracing dank konsequenter Digitalisierung

In Taiwan beträgt die Abdeckung der Bevölkerung mit Mobiltelefonen und Zugang zum Web 160%. Dieser Umstand ermöglichte, gepaart mit einer nationalen Krankenversicherung, die Gesundheits- und Reisedaten kombiniert, ein effizientes Contact Tracing. Zusätzlich half der Einsatz von Telemedizin, physische Kontakte zu verringern, ohne auf ärztlichen Rat verzichten zu müssen. 

  1. Resiliente Wertschöpfungsketten

Kritische Elemente der Wertschöpfungsketten wurden im Vorfeld auf verschiedene Produktionskanäle verlagert, um die Resilienz in einer Krise zu erhöhen. Zusammen mit Investoren können über den Kapitalmarkt rasch zusätzliche Mittel bereitgestellt werden, um die Entwicklung und Produktion auszubauen. 

  1. Adäquate Grenzkontrollen

Die Durchsetzung rigider Grenzkontrollen wurden wesentlich durch den Umstand erleichtert, dass Taiwan eine Insel ist. Doch den Erfolg der Strategie nur darauf zurückzuführen, greift zu kurz. Mit Irland und Grossbritannien kennt auch Europa zwei grössere Inseln, deren Pandemie-Management aber bedeutend weniger erfolgreich ist als das taiwanesische. 

Inwieweit können wir Taiwans Strategie kopieren?

Die taiwanesische Covid-19-Strategie ist für die Schweiz nicht direkt kopierbar. Daraus lernen lässt sich aber. Die Schweiz wird – wie ganz Europa – aus der ersten Pandemie seit 100 Jahren auf dem Kontinent Lehren ziehen und besser vorbereitet sein für das nächste Virus. Dazu gehört eine schnellere Reaktionszeit, sobald irgendwo auf der Welt eine neue, ansteckende Virusart entdeckt wird. Der Einsatz digitaler Technologien im Gesundheitswesen muss – unter Einhaltung des Datenschutzes – rasch vorangetrieben werden. Das Faxgerät gehört definitiv ins Elektro-Recycling. Was die Nutzung weiterer, persönlicher Daten durch die Regierung anbelangt, setzt unser europäisches Verständnis Grenzen. Diese gilt es zu respektieren, im Bewusstsein, dass damit in punkto Effektivität der Pandemiebekämpfung allenfalls Abstriche gemacht werden müssen. 

Im Pandemiefall sollten – wie in Taiwan – die Grenzkontrollen rigider gehandhabt werden, bis hin zu Grenzschliessungen. Dies aber nicht entlang der nationalstaatlichen Grenzen, sondern an den Aussengrenzen des Schengenraums. Das Warnsystem sollte einheitlich auf europäischer Ebene erfolgen. Die Personenfreizügigkeit in Europa ist ein hohes Gut, das auch in Krisenzeiten aufrechterhalten werden muss. Insbesondere die Schweiz profitiert stark davon, nicht zuletzt durch viele ausländische Grenzgänger im Gesundheitswesen. 

Fazit 

Taiwan machte mit Sars die Erfahrungen, die Europa heute macht. Die europäische Strategie, mit dem Virus zu leben, anstatt es auszuschliessen, entspricht dem Versuch, die Pandemie unter grösstmöglicher Wahrung der individuellen Freiheiten zu bekämpfen. Dennoch: Die «Lock-out»Strategie Taiwans zeigt gesundheitlich und wirtschaftlich unbestreitbare Erfolge. Wir sollten uns in einzelnen Punkten davon inspirieren lassen, damit es das nächste Mal nicht nur Taiwan, sondern auch die Schweiz besser kann.  

 

Teilnehmer des Webinars (in englischer Sprache): 

Introduction and closing remarks 

  • Dr. Peter Grünenfelder, Director Avenir Suisse, Zurich 
  • Dr. David Huang, Director Representative Office of Taiwan, Bern  
  • Dr. Patrick Dümmler, Senior Fellow Avenir Suisse 

Health Technology  

  • Dr. Johnsee Lee, Chairman, Precision Medicine & Molecular Diagnostics Industry Association of Taiwan , Honorary Chairman, Taiwan Bio Industry Organization 
  • Dr. Felix R. Ehrat, Chairman and Board Member of Multiple Companies, Lecturer University St. Gallen, Former Member of the Executive Committee Novartis 
  • Dr. Ting-Shou Chen, Division Director, Precision Medicine and Diagnostic Technology Division, Biomedical Technology and Device Research Labs, Industrial Technology Research Institute (ITRI) 
  • Dr. Muh-Hwan Su, General Manager, SynCore Biotechnology Co., Ltd. 

Manufacturing, transportation and travel 

  • Alexander Hagemann, CEO, Cicor Group 
  • Justin Huang, Manager, Evergreen Shipping Agency GmbH, Basel Branch 
  • Peter Kuo, President Edison Travel Service Co., Ltd., Convener of Europe, America, New Zealand and Australia Market Taiwan Visitors Association 

Risk management and future market development 

  • Ivo Menzinger, Head EMEA, Public Sector Solutions, Swiss Re 
  • Dr. Roger Wehrli, Deputy Head General Economic Policy & Education, Economiesuisse 
  • Reto Renggli, Director, Trade Office of Swiss Industries 
  • Brian Lee, Deputy Executive Director, Market Development Department, Taiwan External Trade Development Council