Mit einer für den Arbeitsmarkt typischen Verspätung von zwei Jahren hat die Arbeitsmigration aus dem EU-Raum auf die Frankenaufwertung reagiert, und dies durchaus heftig. Sie ist im ersten Halbjahr 2017 auf das Niveau des Jahres 2005 zurückgefallen, der Anfangsphase der Personenfreizügigkeit. Es stellt sich die Frage, ob dies als Hinweis dafür zu deuten ist, dass die Attraktivität der Schweiz als Arbeits- und Lebensort nachlässt.
Viele gehen heute fast selbstverständlich davon aus, dass die bevorstehende massive Schrumpfung des einheimischen Arbeitskräftepools – bis 2035 werden die ausgeschiedenen Arbeitskräfte die nachstossenden Jungen um fast eine halbe Million übersteigen – eins zu eins mit Zuwanderern aufgefangen werden wird. Stimmt diese Annahme, dann stehen wir erst am Anfang einer starken Bevölkerungsexpansion auf dem Weg zur 10-Millionen-Schweiz, und der Einbruch von 2017 wird eine Randnotiz bleiben. Für die einen ist das eine Horrorvision, für die anderen schlicht wirtschaftliche Notwendigkeit.
Was aber, wenn die Grundannahme der ungebrochenen Anziehungskraft falsch ist und wir in der Zuwanderungsfrage einer Art kollektivem Home-Bias unterliegen? Indizien dafür gibt es einige. Da ist erstens die chronisch schwache Entwicklung der helvetischen Arbeitsproduktivität. Diese verliert gegenüber der EU (und dem Euro-Raum) laufend an Boden. Das Stellenwachstum der letzten Jahre fand denn auch vor allem in staatlichen oder staatsnahen Bereichen statt. Noch bedenklicher: Nicht einmal mehr Südeuropa mit seinen legendär dysfunktionalen Arbeitsmärkten konnten wir seit 2000 in Sachen Produktivitätsfortschritt übertrumpfen. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Da die pro Stunde erbrachte Wertschöpfung die Basis jeder Lohnentwicklung ist, wird der Lohnvorteil der Schweiz schrumpfen und damit auch die Anziehungskraft als Arbeitsort.
Zum Zweiten treten nun auch unsere Nachbarländer in die heisse Phase der demografischen Alterung. Die Ausdünnung des Arbeitsmarktes wird in Deutschland und Italien noch massiver ausfallen als in der Schweiz. Fast überall in Europa werden junge Arbeitskräfte viel begehrter sein als heute. Zwar werden die Jungen mobiler und werden vielleicht auch in der Schweiz eine Karriereetappe einlegen, ein dauerhafter Umzug in die Schweiz könnte dann aber weniger verlockend sein.
Drittens hat die Schweiz Schutzmechanismen aufgebaut, die den Zustrom von Ausländern nach dem Insider-Outsider-Prinzip eindämmen. Meist sind alle Augen auf die flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt gerichtet, die die Inländer in weniger qualifizierten Jobs vor ausländischer Konkurrenz schützen. Ein äusserst effektiver Schutzwall ist dazu die Regulierung des Wohnungsmarktes. Das Prinzip der Kostenmiete schirmt einheimische Mieter vor den Mietzinserhöhungen durch die Zusatznachfrage der Zuwanderer ab. Letztere werden auf das enge und illiquide Segment der Neuwohnungen verwiesen, wo die Mieten auf Höchststände geklettert sind. Aber nicht nur Wohnen ist hierzulande teuer, auch die Hochpreisinsel lässt grüssen. Geblendet von der Kaufkraft des teuren Frankens im Ausland, wird das Wohlstandsgefälle zwischen der Schweiz und dem angrenzenden Ausland überschätzt. Die inländische Kaufkraft der Schweizer Löhne ist nicht so überlegen, wie viele glauben.
Die Strahlkraft des gelobten kleinen Landes in der Mitte des Kontinents ist nicht in Stein gemeisselt. Die Erkenntnis besteht darin, dass die Schweiz ihre Herausforderungen meistern muss, ohne stets auf weitere Zuwanderung zu schielen. Das gilt für den schrumpfenden Arbeitsmarkt, wo uns die Digitalisierung helfen könnte, wenn wir die Weichen richtig stellen. Notwendig sind aber ebenso bessere Erwerbsanreize für Frauen (Individualbesteuerung und Vereinbarkeit) und bildungspolitische Reformen. Und es gilt für die Sozialwerke, deren nachhaltige Finanzierung noch immer nicht gesichert ist. Darauf zu setzen, dass dereinst Scharen hochqualifizierter junger Zuwanderer die drückenden Alterslasten unseres Sozialstaates schultern werden, ist fahrlässig.
Am meisten aber gilt die Erkenntnis für die sich ausbreitende Haltung im Land. Die Zuwanderung der letzten Jahre wirkte ein wenig wie eine Droge. Von der durch sie angefachten Prosperität haben zwar die meisten profitiert. Der Erfolg hat aber gleichzeitig eine fast frivol anmutende Anspruchsmentalität gefördert, die den Blick auf die wahren Erfolgsfaktoren verstellt.
In der Annahme weiteren Wachstums sind wir unschweizerisch staatsgläubig geworden, jedes vermeintliche Problem ruft nach neuer Regulierung und jede angebliche Ungerechtigkeit nach neuer Umverteilung. Möglicherweise liegt gerade in dieser schleichenden Verstaatlichung der Schweiz eine Erklärung für die unbefriedigenden Produktivitätsfortschritte.
Niemand weiss, ob wir gerade den Anfang vom Ende einer 15-jährigen Zuwanderungswelle erleben. Auf jeden Fall eröffnen die sinkenden Zahlen eine Chance: Es wäre viel gewonnen, wenn die politischen Energien nicht länger für den unproduktiven Streit um die Personenfreizügigkeit verschwendet, sondern für zukunftsweisende Projekte eingesetzt würden.
Dieser Text ist in der Ausgabe vom 22. September 2017 in der NZZ erschienen.