Die kürzlich publizierten Xinjiang Police Files sind ein weiteres Puzzlestück in der Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen Chinas an einem Teil seiner eigenen Bevölkerung. Dass sie genau jetzt aufgetaucht sind, ist kein Zufall: Die UN-Kommissarin für Menschenrechte erhielt vor kurzem – nach jahrelangen Bemühungen – Zugang zur betroffenen Provinz. Wie erwartet bekam ihre Delegation dabei zu sehen und zu hören, was nach Diktion der chinesischen Führung auch angeschaut und gesagt werden darf. Dabei sind die Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren nur einer der Vorwürfe und Enthüllungen des Westens über die aggressiver werdende Innen- und Aussenpolitik Pekings. Längst geht es auch um handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen, die die bisherige Weltordnung sukzessive zugunsten Chinas transformieren soll.
Die EU reagierte bereits anfangs 2021 auf die Unterdrückung der Uiguren mit Sanktionen gegen Personen und Unternehmen aus China, im Dezember wurden sie um ein weiteres Jahr verlängert. Die USA stehen seit mehreren Jahren in einem Handelskrieg mit dem Reich der Mitte, der gegenseitige Handel wurde erschwert. Und die Schweiz? Konkrete Schritte unternahm sie bisher nicht, doch längst ist das Thema auf der politischen Agenda. Dabei kommt der Druck nicht nur von innen, sondern auch von aussen. Die Erwartungshaltung der USA und der EU steigt, dass sich die Schweiz der westlichen Position anschliesst.
Eine Möglichkeit wäre, China öffentlichkeitswirksam mit den Vorwürfen zu konfrontieren, Änderungen zu fordern und dem ganzen mit wirtschaftlichen Sanktionen Nachdruck zu verleihen. So einige der in Bern kursierenden Ideen. Dieser Vorschlag ist naiv. Denn China ist aus Schweizer Sicht inzwischen der drittwichtigste Handelspartner, umgekehrt steht Helvetien auf dem 30. Platz der chinesischen Rangliste. Ob es uns gefällt oder nicht: der durch die Schweiz erzeugbare wirtschaftliche Druck auf China dürfte weitgehend symbolisch bleiben. Politischen Forderungen nach Investitionskontrollen oder einer Sistierung des Freihandelsabkommens ist entgegenzutreten.
Vielsprechender ist, die Ausgangslage nüchtern zu analysieren, dem aussen- und innenpolitischen Druck mit kommunikativem Geschick zu begegnen und auf diplomatischem Weg – basierend auf den mit China etablierten Formen des Austausches – Änderungen einzufordern. China ist nicht unempfänglich für Kritik, das Entscheidende ist, dass die Missstände auf diplomatischem und nicht medialem Weg angesprochen werden. Der Gesichtsverlust bei einer öffentlichen Rüge ist aus asiatischer Sicht gross und führt zu einer unnötigen Verhärtung.
Es gilt die wirtschaftliche Resilienz jetzt zu steigern und sich aus der Abhängigkeit autoritärer Regimes zu lösen. Der Ukrainekrieg offenbarte die Abhängigkeit einzelner europäischer Lander von russischen Energielieferungen, so dass sie politisch etwelche Mühe bekundeten, unabhängig reagieren können. Dies gilt es für die Schweiz zu vermeiden. Das beste Rezept ist, die Zusammenarbeit und den wirtschaftlichen Austausch mit «like-minded» Länder zu vertiefen. Dazu gehören nicht nur die USA und die EU, sondern auch viele Länder in Südamerika und im Südpazifik. Dass sich die Schweiz in den letzten Jahren zusehends erfolgloser auf dem aussenwirtschaftlichen Parkett bewegte, muss sich rasch ändern.
Die Einsicht, dass sich China durch Handel nicht wandeln lässt, ist unbequem und zwingt die Schweiz zu einer Gratwanderung zwischen dem Einstehen für die westlichen Werte und vermehrter aussenpolitischer Offenheit. Die Beziehung zu Brüssel – vor kurzem jährte sich der Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen – darf nicht noch weiter erodieren. Die EU-Ländern sind nicht nur wirtschaftlich die engsten Partner der Schweiz, sondern stehen uns auch aus kultureller und demokratischer Perspektive am nächsten.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unserer neuesten Publikation «Navigieren in unruhigen Gewässern – Drei Optionen für die Schweiz im Umgang mit China»