Man könnte die OECD-Steuerreform als Schlussakt in den Bemühungen um eine Harmonisierung der internationalen Unternehmensbesteuerung betrachten. Noch vor wenigen Jahren galt ein Konsens, wonach zentrale Herausforderungen – wie die Besteuerung von digitalen Firmen ohne Präsenz in einem Land – innerhalb des bestehenden Systems adressiert werden sollen. Nun schickt sich die OECD an, unter Mitwirkung der G20 eine ganz neue Steuerordnung zu schaffen. Diese Umgestaltung fällt primär zugunsten grosser Staaten aus, indem etwa der Steuerwettbewerb zwischen Ländern als grundsätzlich schädlich eingestuft wird. Dennoch ist es den Initianten der Steuerreform gelungen, die Staatengemeinschaft hinter die Reform zu scharen – ein Coup, den bis vor Kurzem nicht viele für möglich gehalten haben.

Kaum Fortschritte bei der Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle

Allerdings täuscht die Einigung von beinahe 140 Staaten im Juli 2021 über zahlreiche praktische Probleme hinweg, die bereits vor Inkrafttreten Unsicherheit streuen. So ist die Umsetzung der sogenannten Säule 1 arg ins Stocken geraten. In deren Rahmen sollen Gewinne in Länder umverteilt werden, die nach heute geltenden Steuernormen kein Recht haben, diese Gewinne zu besteuern. Will heissen: Neu würde nicht nur am Ursprung der Erträge besteuert, wo Entwicklung, Produktion und Marketing stattfinden, sondern auch im Zielland, also dort, wo Unternehmen in erster Linie Umsatz erzielen. Zweck der Regelung wäre, die Besteuerung von Konzernen ohne physische Marktpräsenz zu sichern und damit unilaterale Digitalsteuern zu verhindern.

Die unter Säule 1 angestrebte Neuzuteilung der Gewinne ist anspruchsvoll. Entsprechend gibt es zahlreiche offene Fragen. So etwa: Welche Staaten müssen zur Verhinderung einer Doppelbesteuerung eine Entlastung bei der Gewinnbesteuerung gewähren? Oder: Wie ist der Mechanismus zur Streitschlichtung zwischen Staaten auszugestalten? Die Unterzeichnung des für die Umsetzung notwendigen multilateralen Abkommens ist kürzlich um ein Jahr auf Mitte 2023 verschoben worden. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass bei gewichtigen Fragen eine Einigung ausgeblieben ist.

Über 135 Länder haben sich bereiterklärt, die Steuerreform umzusetzen. (Jason Leung, Unsplash)

Hinter vorgehaltener Hand wird bereits darüber spekuliert, ob Säule 1 überhaupt jemals implementiert wird – nicht zuletzt, weil das Schicksal des multilateralen Abkommens in den USA offen ist. Ein Abkommen ohne die USA als wichtigsten Sitzstaat grosser Digitalunternehmen ist zwecklos. Würde die Neuzuteilung der Besteuerungsrechte scheitern, dürfte dies insbesondere in der EU den Appetit auf Digitalsteuern aufleben lassen. So wird ein Szenario denkbar, an dem niemand Interesse hat und das Säule 1 eigentlich verhindern sollte: Neue Handelsverwerfungen aufgrund unilateraler Digitalsteuern europäischer Länder und US-amerikanischer Strafzölle etwa auf französischen Luxusprodukten oder deutschen Autos. Auch in der Schweiz gibt es übrigens Stimmen, die eine Digitalsteuer fordern. Eine entsprechende Motion ist im Parlament hängig.

Mindeststeuer steht vor weiteren politischen Hürden

Trotz Konkretisierung zahlreicher technischer Aspekte in den letzten Monaten ist auch Säule 2, der Mindeststeuersatz von 15% für multinationale Konzerne, noch nicht unter Dach und Fach. Für die OECD sind die technischen Arbeiten zwar abgeschlossen. Einer Umsetzung per Anfang 2024 scheint demnach nichts im Weg zu stehen. Allerdings stossen die neuen Regeln auf Widerstand in einzelnen Ländern. In den USA stören sich Politik und Wirtschaft etwa daran, dass das Abkommen auch Einfluss auf die Ausgestaltung von Steueranreizen zur Investitionsförderung nimmt. Als Folge zögert man in Washington die notwendige Anpassung des bestehenden US-Systems – die USA erheben seit 2017 eine Zusatzsteuer von 10,5% auf Gewinne von Tochtergesellschaften US-amerikanischer Unternehmen – an das OECD-Abkommen hinaus. Schon vor den Zwischenwahlen im November, bei denen die dem Abkommen eher zugeneigten Demokraten um ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus bangen, steht die Zustimmung der USA auf der Kippe.

In der EU blockieren zudem einzelne Mitgliedsstaaten – gegenwärtig Ungarn – die entsprechende Richtline für eine EU-weite Implementierung. Einstimmigkeit ist für die EU als Unterstützerin der ersten Stunde vor allem aus politischen Gründen wichtig. Und wenn die USA aussen vor bleiben, wäre das Abkommen ohne die Unterstützung der EU kaum zu retten.

Nicht päpstlicher als der Papst

In diesem Kontext berät das Schweizer Parlament derzeit die Umsetzungsvorlage des Bundesrats. Zudem läuft bis im November die Vernehmlassung zu den Übergangsbestimmungen in der Verfassung. Angesichts der beträchtlichen Ungewissheit wäre die Politik gut beraten, eine schlanke Umsetzung voranzutreiben. Stattdessen droht der Bundesrat über das Ziel hinauszuschiessen. Sowohl die vorgeschlagene Verfassungsänderung als auch die temporäre Verordnung hinterlassen den Eindruck, dass man erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen will, die Schweiz würde die Reform nicht wasserdicht umsetzen. In den elf Artikeln der Übergangsbestimmung wird mindestens zehn Mal auf die OECD-Mustervorschriften verwiesen.

Offenbar ist der Bundesrat – und mit ihm die ständerätliche Wirtschaftskommission – zudem der Meinung, dass sich die Reform nur umsetzen lässt, wenn gegen existierende Besteuerungsgrundsätze verstossen wird. So ermöglicht eine Bestimmung im neuen Verfassungsartikel (Art 129a Abs. 3 E-BV) dem Bund, sich steuerrechtlichen Leitprinzipien zu entziehen, die ebenfalls in der Verfassung festgehalten sind (Art. 127 Abs. 2 BV). Dies, obwohl bereits in der Vernehmlassung zur Verfassungsbestimmung im Frühjahr und auch kürzlich in der NZZ Alternativen zum fiskalischen Wortlaut aufgezeigt wurden.

Nicht zuletzt erweitert der Bund seine Gewinnsteuerkompetenz, indem er die zur Umsetzung notwendige Ergänzungssteuer als Bundessteuer konzipiert. Damit bricht er mit dem Prinzip, dass die Bundessteuern befristet und gedeckelt sind und öffnet damit die Türe für systemfremde Umverteilungsmechanismen. So berechtigt das Anliegen einer rechtssichernden und international akzeptieren Umsetzung der Steuerreform sein mag, so unausgereift ist die Umsetzungsvorlage in Anbetracht dieser Mängel aus staatspolitischer Sicht.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in der jüngsten Avenir-Suisse-Analyse: «Schöne neue Steuerwelt».