Kaum ein Mythos hält sich so hartnäckig wie jener der steigenden Ungleichheit in der Schweiz. «We’re fucked» war kürzlich in einem Wirtschaftsmagazin zu lesen – dem vulgären Titel folgte die Beschreibung einer gespaltenen Schweiz – in der es in erster Linie Superreiche und Working Poor zu geben scheint. In ihrer sprachlichen Vulgarität waren diese Ausführungen zwar überraschend, inhaltlich aber nicht mehr als biederer Mainstream.

Phantom-Phänomen

Es ist normal geworden, über den Kapitalismus zu lästern und abwechselnd Banken, CEO oder grosse Konzerne als Schuldige einer angeblich immer grösser werdenden Schere zwischen Arm und Reich darzustellen. Eine Studie des renommierten deutschen Forschungsinstituts IW Köln hat jüngst dieses gesuchte Suhlen im Negativen in Zahlen gefasst: Während sich die Ungleichheit in Deutschland in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat, verdoppelte sich der Anteil der Berichterstattung zum Thema in diesem Zeitraum. Das steht beispielhaft für die heutige Debattenkultur über Ungleichheit, die es so wohl auch hierzulande gibt.

Dabei gäbe es besonders für die Schweiz viel Positives zu berichten: Die Verteilung des verfügbaren Einkommens – also jener Einkommen, bei denen obligatorische Ausgaben wie Steuern oder obligatorische Krankenkassenprämien abgezogen und Umverteilungsmassnahmen dazugezählt wurden – ist stabil, soweit die Daten der üblichen Statistiken des Bundes zurückreichen (SILC und Haushaltsbudgeterhebung). Auch die tiefsten Erträge haben in den vergangenen Jahren Wachstum verzeichnet. Zwischen 2006 und 2014 etwa haben sich die Einkommen der untersten 40% der Bevölkerung um rund 10–11% erhöht, fast doppelt so stark wie ihre Konsumausgaben. Das heisst, auch die ärmeren Bevölkerungsschichten haben etwas mehr Budgetspielraum erhalten.

Suhlen im Negativen: Explodierende Berichterstattung zur vermeintlich wachsenden Ungleichheit. (Wikimedia Commons)

Die Schweiz ist, im positiven Sinne, einer der Sonderfälle in Europa und in der Welt: Die Stabilität der Verteilung und die schiere Höhe der Einkommen sind nahezu unerreicht. Auch der Anteil der Personen in der Schweiz, die unter die offizielle Definition von Armut fallen, weist in den letzten Jahren eine sinkende Tendenz auf. 7% der Bevölkerung sind es im Moment noch – davon leben knapp 30% nicht zur Miete, sondern in den eigenen vier Wänden. Besonders der letzte Punkt mag überraschen. Weil die übliche Armutsquote aber auf das Einkommen abstellt, wird für diese Personengruppe die Situation überzeichnet. Das zeigt, dass der Anteil jener, die in tatsächlicher Armut leben, nicht nur gesunken, sondern wohl auch deutlich geringer als angegeben ist.

Orientierung an Einzelfällen

Diese simplen Tatsachen kommen in der aktuellen Debatte allerdings kaum zur Geltung. Stattdessen orientiert sich die Diskussion auf Einzelfälle von hohen Salären oder auf eine Vermögensstatistik, die mit den Vorsorge- und Immobilienvermögen genau jene Teile der Vermögen nicht korrekt erfasst, die für die unteren Einkommensschichten am bedeutendsten sind. Besonders aus zwei Gründen ist diese Neiddebatte Zeitverschwendung. Zum einen können Einzelfälle nichts über die Lage der ganzen Schweiz aussagen. Zum anderen ist nicht interessant, wer wie viele Millionen verdient, sondern ob es uns als Gesellschaft gelingt, jenen eine Stütze zu sein, die aus eigener Kraft nicht (mehr) bestehen können.

Es sollte auch um die Frage gehen, wie nahe wir in der Schweiz am Ideal der gleichen Chancen sind. Dazu ist im Zusammenhang mit der Verteilung des Wohlstandes aber kaum etwas zu hören. Natürlich gibt es auch in der reichen Schweiz Menschen, die mit Einschränkungen zu kämpfen haben. Ihnen ist aber mit pauschaler Angstmacherei nicht geholfen. Darum kann es auch kein vernünftiges Ziel sein, den Anschein zu erwecken, dass ein grosser Teil der Schweiz «in schwierigen Verhältnissen» lebt oder dass in der Schweiz angeblich nur die Reichen vom steigenden Wohlstand profitierten.

Bei aller Uneinigkeit darüber, was das optimale Mass an Ungleichheit angeht, braucht die politische Diskussion deshalb einen Paradigmenwechsel: Vieles läuft gut in der Schweiz. Das sollten wir anerkennen und uns gezielt tatsächlich bestehenden Problemen, wie etwa einer nachhaltig finanzierbaren Altersvorsorge, widmen. Das sind wir jenen, die die staatliche Umverteilung finanzieren, genauso schuldig wie jenen, die auf Hilfe angewiesen sind.

Dieser Beitrag ist am 11. November 2017 in der «Schweiz am Wochenende» erschienen.