«Europa hat die Wahl». Der Titel des Auftritts von Günter Verheugen, dem ehemaligem Vizepräsidenten der EU- Kommission, an der aussenpolitischen Aula an der Universität Bern liess eine umfassende Tour d‘horizon erwarten. Und so kam es auch.

Anlass für den Vortrag war die bevorstehende Wahl des EU-Parlaments Ende Mai. Eigentlich möge er den Begriff «Schicksalswahl» nicht, betonte der ehemalige Diplomat gleich zum Einstieg. Zu oft habe er ihn schon in seiner Karriere gehört. Aber diese Wahl sei wichtig, denn sie wird die tatsächliche Stärke der EU-skeptischen Kräfte in den Mitgliedstaaten offenlegen. Sehr wahrscheinlich ist schon jetzt, dass die informelle grosse Koalition aus The European People’s Party (EPP) und der sozialdemokratischen Fraktion (S&D) im Europäischen Parlament verlieren wird. Die Besetzung von Spitzenpositionen der EU sei deshalb ebenso wenig kalkulierbar wie wichtige Sachentscheide. Grundsätzlich brauche die EU aber dringend neben einer positiven Dynamik vor allem auch die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion, denn weitere fünf Jahre des schleichenden Bedeutungsverlusts könne sie sich nicht leisten.

Schrittweise Reformen

Verheugen attestiert der EU von heute vier Schwachpunkte: Erstens fehle es an einem Staat, der innerhalb der Union bereit sei, eine aktive Führungsrolle zu übernehmen. Zweitens sei der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern in den letzten Jahren erodiert, was man daran sehe, in welchem Tempo sich die «nationalistische Internationale» formiere. Drittens mangle es an einer klaren Strategie, etwa in Bezug auf Drittstaaten oder die Grossmächte. Und viertens fehle es an Legitimation: Die EU-Kommission sei in den letzten Jahren politischer geworden – zum Preis einer geringeren Unabhängigkeit von den Mitgliedstaaten.

Der ehemalige Kommissions-Insider erliegt nicht der Versuchung, den ganz grossen Wurf für die Reform der EU zu fordern oder zu skizzieren. Er plädiert vielmehr dafür, Schritt für Schritt vorzugehen – im Rahmen des bestehenden Vertrages. «Nicht Strukturen, sondern Personen sind entscheidend, auch in der EU.»

Die Distanz der Bürger zu Brüssel sei dadurch gewachsen, weil die Politik zu oft zu kleinlich vorgegangen sei. In vielen Fällen wäre es besser – und naheliegender –, verbindliche Ziele zu definieren, deren Umsetzung aber den Mitgliedländern zu überlassen. Vor allem die Forderung nach «mehr Europa» mache vielen Bürgern Angst. Sobald die Politik von unten mitgetragen werden könne, wachse die Zahl der «Integrationsbereiten» wieder, ist Verheugen überzeugt.

Wenig geholfen habe, dass sich die Länder mit der Währungsunion strukturell auseinander bewegt haben. Durch klügere – und weniger – Regulierung liesse sich viel wirtschaftliche Dynamik freisetzen. Wichtig sei auch, dass mit Strukturpolitik wettbewerbsfähige Bereiche unterstützt würden. So sei aktuell der finanzielle Aufwand für die Landwirtschaft viel zu hoch.

Bei der Brexit-Debatte sieht Verheugen nur Verlierer, auf beiden Seiten. Die Hoffnung, dass der Brexit eine bessere Regelung der EU-Beziehungen zu Drittstaaten anstossen könne, habe er verloren. Besonders in internationalen Fragen sei das Vereinigte Königreich ein schwerer Verlust für die EU. Er betonte, der Schweiz keine Ratschläge erteilen zu wollen, wurde durch die Zuhörer am Ende aber doch dazu aufgefordert. Seine Einschätzung war klar: Als ehemaliger Insider wisse er, wie die EU politisch funktioniere; ein bessere Verhandlungsergebnis als das vorliegende institutionelle Abkommen werde die Schweiz nicht erhalten.

Die Zukunft der europäischen Idee

In der öffentlichen Diskussion wird die EU oft nur als Wirtschaftsraum gesehen. Verheugen aber hängt die strategische Bedeutung der Aussen- und Sicherheitspolitik viel höher. Die EU müsse ihre Handlungsfähigkeit auf der weltpolitischen Bühne erhalten, und zwar gerade deshalb, weil die Zeiten der europäischen Grossmächte definitiv vorbei sind. «Wir sind nicht mehr der Nabel der Welt. Damit sollten wir uns abfinden und gleichzeitig versuchen, eine gleichberechtigte Stimme in der Welt zu bleiben.» Global gesehen gebe es viele Themen, bei denen die EU mit einer Stimme sprechen und mitreden sollte, wie z.B. Klima- und Umweltprobleme, die Verteilung des Wohlstands, die Flüchtlingsströme, die auslaufenden Verträge über die Massenvernichtungswaffen oder der Aufstieg Chinas zur Weltmacht.

Verheugen wirkt sehr glaubwürdig, wenn er sagt: «Die europäische Idee ist nach wie vor eine der besten, die wir je hatten, und wir brauchen sie zur Bewältigung der Zukunft. Unsere Verantwortung für Frieden bezieht sich auch auf die Weltpolitik.» Es ist zu hoffen, dass im nächsten EU-Parlament die Weitsichtigen in der Mehrzahl sind.