Die Verhandlungen über ein Stromabkommen wurden 2007 gestartet, im Juli 2018 fand die bisher letzte Verhandlungsrunde statt (EDA 2021). Seither herrscht Schweigen, da die EU zusätzliche sektorielle Marktzutrittsabkommen vom institutionellen Rahmenabkommen (InstA) abhängig machte. Nun, da der Bundesrat entschieden hat, das vorliegende InstA nicht zu unterzeichnen, wird es kurzfristig auch keine Einigung beim Strom geben.
Es ist paradox: Mit 41 Grenzkoppelstellen ist die Schweiz wie kaum ein anderes Land aufs engste physisch mit dem kontinentaleuropäischen Netz verbunden. Gleichzeitig reisst auf politischer Ebene die Verbindung ab: Die Abstimmung mit den europäischen Nachbarn wird zusehends schwieriger. Nahm die Schweiz vor Jahrzehnten dank ihrer geografischen Lage, dem gut ausgebauten Stromnetz sowie ihrer flexibel einsetzbaren Wasserkraft in Mitteleuropa eine Schlüsselrolle ein («Stern von Laufenburg»), verblasst ihre Bedeutung heute zusehends.
Diese relative Verschlechterung hat vor allem mit der Dynamik des Sektors in unseren Nachbarländern zu tun: Die EU baut ihren Strombinnenmarkt laufend aus, während Schweizer Akteure – in erster Linie die hiesigen Stromunternehmen sowie Swissgrid – sukzessive aus dem Markt und relevanten Koordinationsgremien wie ACER (Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden) oder ENTSO-E (Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber) gedrängt werden. Die bestehenden Verträge von Swissgrid mit den benachbarten Übertragungsnetzbetreibern sind eine Behelfslösung und ersetzen ein Stromabkommen in der langen Frist nicht (Bundesrat 2021).
Zwar wird weiterhin ein grosser Teil der italienischen Elektrizität über das Schweizer Netz gehandelt, doch die Weiterentwicklung des EU-Strombinnenmarkts findet ohne Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten des Drittstaates Schweiz statt. In der europäischen Stromlandschaft ist unser Land schrittweise vom prägenden Akteur zum an der Seitenlinie stehenden Beobachter abgestiegen.
Weniger statt mehr Souveränität
Die Souveränität der Schweiz ist für viele politische Meinungsmacher das entscheidende Kriterium, um die geltende und zukünftige Zusammenarbeit mit der EU zu beurteilen. Je unverbindlicher die vertraglich vereinbarte Kooperation – so die oft gehörte Meinung – desto mehr Souveränität bleibt der Schweiz. Beim Strom ist das Gegenteil der Fall: Ohne Abkommen entgleitet der Schweiz die Hoheit über das eigene Höchstspannungsnetz zunehmend. Grund ist, dass der sukzessive Ausschluss unseres Landes aus den EU-Koordinationsgremien mitunter relevante Aspekte der schweizerischen Netz- und Versorgungssicherheit betrifft. So führt der Drittlandstatus der Schweiz bereits heute zu ungeplanten Stromflüssen durch die Schweiz (sogenannte «Loopflows»), die die Netzstabilität gefährden. Als Konsequenz muss Swissgrid vermehrt eingreifen und die gerade im Winter wertvollen Wasserreserven teilweise turbinieren lassen, um das Übertragungsnetz zu stabilisieren (VSE 2021). Dabei stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Je länger ein klarer Rahmen mit der EU fehlt, desto mehr Handlungsfreiheit verliert die Schweiz.
Die Installation von sogenannten Phasenschiebertransformatoren an den Grenzen, um das Schweizer Netz vom Ausland zeitweise zu entkoppeln, ist dabei nicht zielführend. Eine umfassende Installation der Transformatoren wäre mit Kosten «von mindestens mehreren 100 Millionen Franken verbunden» (Bundesrat 2021). Ihr betrieblicher Einsatz würde zudem eine enge Koordination mit den benachbarten Netzbetreibern erfordern, diese wird aufgrund des Drittlandstatus jedoch zusehends schwieriger.
Fehlendes Stromabkommen verursacht Zusatzkosten
Die Kosten der notwendigen Massnahmen müssen letztlich von den Schweizer Endverbrauchern, den Konsumentinnen und Konsumenten, getragen werden. Simulationen zeigen, dass die Differenz des Grosshandelspreises für eine MWh zwischen der Schweiz und der EU ab 2025 ohne ein Stromabkommen zunehmen wird (van Baal und Finger 2019), Schätzungen gehen bis 2030 von 15-20 Fr. pro MWh aus (Hettich et al. 2020; van Baal und Finger 2019), d.h. für einen Familienhaushalt ein Aufpreis von rund 100 Fr. pro Jahr. Gesamthaft werden die Kosten eines ausbleibenden Stromabkommens für den Standort Schweiz auf 120 Mio. Fr. pro Jahr geschätzt (Economiesuisse 2019). Das heisst auch: Die Umsetzung der Energiestrategie 2050 wird teurer werden.
Mit einem Stromabkommen würden die bestehenden Netze besser koordiniert sowie Überlastungen und ungeplante Stromflüsse weitgehend verhindert. Dafür kennen die EU-Länder die sogenannte Marktkopplung, ein Verfahren zur effizienten Nutzung der nur begrenzt verfügbaren Übertragungskapazitäten zwischen verschiedenen Ländern, welches das Engpassmanagement erleichtert. Bei ausreichender Grenzkapazität konvergieren die Preise zwischen den Marktgebieten, und Preisspitzen werden abgeschwächt. Die Folgen extremer Wetterbedingungen in einer Region, z.B. eine Kältewelle, können so vermindert werden. Die Marktkopplung verringert auch die Abhängigkeit von der Produktionskraft eines einzelnen Landes, was insgesamt die Versorgungssicherheit erhöht (VSE 2020). Ohne Stromabkommen bleibt die Schweiz aber von diesem System ausgeschlossen.
Dies hat auch Auswirkungen auf die einst stolze und europäisch führende Schweizer Wasserkraft. Sie kann ihre Flexibilität ökonomisch nur ungenügend in Wert setzen, solange sie von der gleichberechtigten Teilnahme an den europäischen Plattformen ausgeschlossen bleibt. Zwar kann die Schweiz auch in Zukunft mit Strom handeln, jedoch wird der Handel ohne Stromabkommen mit der EU zunehmend umständlicher, die Wettbewerbsnachteile für Schweizer Anbieter steigen also.
Versorgungssicherheit langfristig gefährdet
Spätestens ab 2025 müssen unsere Nachbarländer im Minimum 70% der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reservieren. Dazu entlasten die umliegenden Länder ihre internen Netzengpässe zeitweise auf Kosten der Schweiz – die Importkapazitäten unseres Landes werden deutlich beschnitten (Frank 2021). Dies könnte sich insbesondere in den Winterhalbjahren negativ auf die Versorgungssicherheit unseres Landes auswirken. Die Schweiz sollte deshalb rasch die Planung an die Hand nehmen und ihre eigenen Stromproduktionskapazitäten ausweiten. Dies ist nicht nur mit milliardenschweren Zusatzaufwendungen verbunden, sondern kann auch dazu führen, dass die heute langwierigen, jahr(zehnt)elangen Bewilligungsverfahren für neue Kraftwerke dringend revidiert werden müssen. Es ist keinesfalls auszuschliessen, dass bei einer massiven Störung der Versorgungssicherheit gar die demokratisch legitimierten rechtlichen Bewilligungsprozedere ausser Kraft gesetzt werden müssten.
Strommarktöffnung schafft klarere Rahmenbedingungen
Hilfreich dazu wäre eine vollständige Öffnung des Schweizer Strommarktes, die bisher nur für grössere Abnehmer umgesetzt wurde. Die Revision des Stromversorgungsgesetzes, zur Botschaft des Bundesrates für Mitte 2021 angekündigt, will genau dies erreichen. Damit würden klare Rahmenbedingungen geschaffen, als Kontrast zur heutigen Unsicherheit über die zukünftige Regulierung, die sich für die Stromerzeuger negativ auf die Investitionssicherheit auswirkt. Sie investieren u.a. auch deshalb bereits heute vermehrt im europäischen Ausland. Im Gegenzug gehören die Hürden für ausländische Investitionen in die Energieversorgung der Schweiz seit Jahren zu den umfangreichsten unter den OECD-Ländern (OECD 2019) , und sie sollen – gemäss der parlamentarischen Initiative Badran – weiter erhöht werden (Bundesversammlung 2021). Dabei erweisen Investitionskontrollen – in Wahrheit will man sich die ungeliebte ausländische Konkurrenz vom Leibe halten – der Schweizer Volkswirtschaft einen Bärendienst.
Hausaufgaben im Strommarkt anpacken
Der Entscheid zur Nicht-Unterzeichnung des InstA hat negative ökonomische Konsequenzen für unser Land. Jeweils für sich betrachtet (beispielsweise für die Medtech-, MEM- und chemisch-pharmazeutische-Industrie) mögen die Beträge in Zeiten der staatlichen Corona-Milliardenhilfen vernachlässigbar erscheinen, für die jeweiligen Branchen und in der Summe für die Volkswirtschaft sind sie relevant. Dies erhöht den Druck auf die Schweiz, ihre eigenen Hausaufgaben zu machen, d.h. die inländischen Massnahmen umzusetzen, die helfen, den Prosperitätsverlust auszugleichen. Im Strommarkt gehören der mittel- bis langfristige Ausbau der Produktionskapazitäten, die Strommarktöffnung, der Abbau von Investitionshürden und ja, auch die weitere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn dazu. Alle genannten Massnahmen spielen für die zukünftige Stromversorgung der Schweiz eine entscheidende Rolle. Es ist offensichtlich: Auch im Energiebereich ist die Schweiz keine Insel – ob mit oder ohne InstA.