Seit Jahren befinden sich die steuerlichen Aktivitäten multinationaler Unternehmen in vielen Ländern im Visier der Steuerbehörden. Affären wie «Lux Leaks», «Panama Papers» oder in jüngster Zeit «Paradise Papers» haben den Druck auf Unternehmen und Regierungen erhöht. Mittlerweile sind auch Teile der öffentlichen Meinung und zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft wie NGO (Nicht-Regierungsorganisationen) und Kirchen fest davon überzeugt, dass die in Entwicklungsländern erzielten Gewinne transnationaler Konzerne unbesteuert bleiben.
Wie realistisch sind solche Vorstellungen? Ist die tatsächliche Wirkung des sogenannten Beps (Base Erosion, Profit Shifting) in den ärmsten Ländern so stark, dass, wie von der Entwicklungsorganisation Oxfam suggeriert, die korrekte Erfassung der Gewinne ausreichen würde, um die Ressourcen zu mobilisieren, die diesen Ländern zur Erreichung ihrer wichtigsten Entwicklungsziele fehlen?
Reiche Länder betroffen
Offiziellen OECD-Analysen zufolge werden die jährlichen Steuereinbussen aufgrund von Beps weltweit auf 100 bis 240 Mrd. $ geschätzt, also eine durchaus ansehnliche Summe – zumindest auf den ersten Blick. In Relation zu anderen Grössen relativiert sich die Bedeutung allerdings: Der Betrag entspricht nur 4 bis 10% der globalen Körperschaftsteuereinnahmen und nicht einmal 1% der weltweiten Staatseinnahmen.
Darüber hinaus betrifft die überwiegende Mehrheit dieser Einnahmenausfälle nicht den Haushalt der armen, sondern der reichen Länder, allen voran das chronisch defizitäre Budget der USA. So deuten neue Studien darauf hin, dass bis zu einem Viertel aller Steuerausfälle durch Beps zulasten der US-Staatskasse gehen.
Der Grund ist klar: Der überwiegende Teil des internationalen Handels findet zwischen den industrialisierten Ländern statt – nicht zwischen reichen und armen. So macht der Handel zwischen Subsahara-Afrika und dem Rest der Welt nur 3% des Welthandels aus. Da gibt es wenig zu «optimieren».
Auch die Idee, dass Multis in Entwicklungsländern verhältnismässig wenig Steuern zahlen, ist nicht korrekt. Nach Schätzungen der Uno (UNCTAD) generieren multinationale Unternehmen in ärmeren Ländern im Durchschnitt gut 10% der Steuereinnahmen, während in Industrieländern nur 5% der Einnahmen auf diese Kategorie zurückzuführen sind. Es ist deshalb umstritten, ob diese Einnahmequelle stark erhöht werden könnte, ohne einen Exodus der Unternehmen auszulösen. Grosse Unterschiede zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern gibt es eher bei der Besteuerung der natürlichen Personen als bei den Unternehmen. Reiche und Selbständige sind da oft in der Lage, Steuern ungestraft zu hinterziehen.
Schliesslich hätte sogar eine markante Erhöhung der Steuerlast der Multis in Entwicklungsländern nur eine marginale Auswirkung auf die Fähigkeit dieser Länder, ihren tatsächlichen Bedarf zu decken. Zum Beispiel betragen sämtliche Steuereinnahmen Äthiopiens um die 20 $ pro Kopf und Jahr – ein Bruchteil der 150 bis 500$, die laut Experten nötig wären, um ein einigermassen funktionales Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversicherungssystem zu finanzieren.
Gegen Korruption
Das bedeutet nicht, dass jeglicher Reformversuch der grenzüberschreitenden Besteuerung aufgegeben werden sollte. Im Gegenteil: Initiativen wie das Beps-Projekt der OECD, das der «aggressiven Steuervermeidungspraxis» bestimmter multinationaler Unternehmen entgegenwirken will, verdienen, weitergeführt zu werden. Es ist gut, dass sich die Schweiz nach anfänglichem Zögern dem Projekt verpflichtet hat.
Es wäre jedoch ein Fehler, alles auf diese Karte zu setzen. Auch der Kampf gegen die Korruption und die Steuerhinterziehung muss intensiviert werden, sowie gegen verzerrende Steuervergünstigungen, die von den Entwicklungsländern selbst vergeben werden. Ein Beispiel sind Subventionen für Treibstoff, die vorab den besser verdienenden in diesen Ländern zugutekommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt ihren Umfang auf über 1000 Mrd. $ pro Jahr. Und schliesslich sollten auch gewisse NGO reinen Wein einschenken: Nur ein solides und dauerhaftes Wirtschaftswachstum kann die Armut besiegen.
Eine frühere Version dieses Beitrages ist am 24. Januar 2014 in der «Finanz und Wirtschaft» erschienen.