«So geht die Freiheit zugrunde – mit donnerndem Applaus». Diesen Satz spricht – vor langer Zeit in einer weit entfernten Galaxis – Senatorin Padmé Amidala konsterniert aus, als Kanzler Palpatine die Umgestaltung der Republik zum Galaktischen Imperium verkündet – um «allgemeine Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten» – und dabei lauten Zuspruch aus dem Parlament erntet. Die Rede ist natürlich von «Star Wars».

Im Hier und Jetzt kommt einem dieser Satz unweigerlich im Zusammenhang mit dem Geschehen rund um das Virus Sars-CoV-2, als Coronavirus geläufig, in den Sinn. In den vergangenen vier Wochen gab der Bundesrat immer umfassendere Einschränkungen der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit bekannt. Dass diese in der Bevölkerung auf weit verbreiteten Zuspruch stiessen, zeigte eine von Sotomo im Auftrag der SRG kürzlich durchgeführte Umfrage: 54% der Befragten fanden die Massnahmen angemessen, 26% gingen sie gar «eher zu wenig weit und 16% «viel zu wenig weit». Bleiben bloss 4%, denen die Massnahmen «eher oder viel zu weit» gehen.

Diese Zahlen bestätigen den Eindruck, den man auf Social Media erhält: Dort fühlten sich User dazu berufen, mit kompromittierendem Fotomaterial Personen anzuprangern, die sich in Gruppen draussen aufhielten. Den empörten Posts waren zahlreiche Likes und Beipflichtungen sicher. Entsprechend oft hört man die Forderung nach flächendeckenden, strikt durchgesetzten Hausarresten. Der Lockdown scheint von einigen – zumindest in seiner jetzigen Frühphase – sogar romantisiert zu werden: Endlich mal einen Gang runterschalten, zu sich kommen, weg von dieser schnellen, reizüberflutenden neuen Welt. Da schwingt nicht zuletzt oft auch eine gehörige Portion Kapitalismuskritik mit. Was alle Klimawandeldemos nicht geschafft haben, schafft Corona scheinbar im Handumdrehen. 

Szenarien des Infektionsverlaufs

Diese romantisierte Sicht auf den Lockdown wird sich wohl nicht ewig halten. Umso wichtiger ist eine Diskussion darüber, auf was wir uns da langfristig einlassen und was wir damit konkret erreichen. Dazu kommuniziert der Bundesrat leider kaum. Erste Anhaltspunkte liefert ein unterdessen vielzitiertes Paper des Imperial College in London. Es zeigt, dass tatsächlich nur ein Lockdown (umfassendes Social distancing, Schliessung von Schulen und Universitäten, Homeoffice wo möglich) die wöchentlichen Fallzahlen permanent unter einem die Spitalkapazitäten überlastenden Niveau halten kann, denn diese Kapazitäten betragen kaum 10% (!) des Bettenbedarfs, welcher ohne Interventionen auf dem Höhepunkt der Erkrankungswelle entstehen würde.

Ein grosses Problem ist dieser Strategie allerdings inhärent: Wenn der Ansteckungsprozess derart langsam ist, dann dauert es nicht Monate, sondern viele Jahre, bis Herdenimmunität in genügendem Umfang erreicht ist. Das ist ein bisher von vielen verkannter Sachverhalt: Je erfolgreicher wir die Kurve glätten, desto länger dauert das Erreichen das Herdenimmunität. Um die Spitalkapazitäten nicht zu überschreiten, muss die Kurve nicht – wie es viele gängige Grafiken suggerieren – einfach etwas geglättet, sondern regelrecht zerquetscht werden – beziehungsweise würden aus einer einzigen Kurve dann viele zeitlich aufeinanderfolgende: Den jetzigen Lockdown könnte man wohl gegen Sommer, falls die Infektionswelle deutlich abebbt, lockern, aber spätestens gegen Herbstende würde – sofern auch nur wenige infizierte Personen nicht identifiziert und isoliert sind – die nächste Welle folgen und abermals ein radikaler Lockdown nötig (Szenario A). Man hätte dann mit dem erstmaligen Lockdown erst einen kleinen Fortschritt erreicht, aber schon eine riesige Wirtschaftskrise ausgelöst. Diese Aussicht ist nicht sehr ermutigend und stellt den Zweck dieser harten Einschränkungen in Frage.

Entkommen wir der Krise gerade mal noch knapp? Leerer Flughafenterminal E in Zürich. Erez Attias, Unsplash

Zum Glück muss es nicht unbedingt soweit kommen. Einige Experten gehen davon aus, dass man nach Überstehen der ersten Infektionswelle weitere Wellen auch ohne erhebliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens verhindern kann (Szenario B): Dazu nötig wäre erstens der umfassende, flächendeckende Einsatz von Schnelltests (und zwar auch an Menschen, die keine Symptome zeigen), Mundschütze für die ganze Bevölkerung und ein konsequentes, ausgereiftes digitales Contact-Tracing, das dank Apps, wie sie z.B. Singapur schon einsetzt, auch ohne massenhafte staatliche Überwachung möglich sein sollte. So könnte man die Zeit bis zur Marktreife eines Impfstoffs «überbrücken». Bei einem solchen einmaligen, maximal zweimonatigen Lockdown mit anschliessendem Sieg über das Virus ohne Erdauern der Massenimmunität könnte die Volkswirtschaft einer langanhaltenden, tiefen Krise vielleicht gerade noch entkommen.

Was bringt das?

Wie viele Menschenleben in der Schweiz mit dieser drastischen Beschneidung unserer Bewegungsfreiheit gerettet werden können, hängt natürlich davon ab, wie viele Leben ohne diese Massnahmen auf dem Spiel stünden. Für England wurden für den Fall nur geringfügiger Einschränkungen des öffentlichen Lebens 250’000 Tote im gesamten Ansteckungsverlauf prognostiziert – das sind 0,38% der Bevölkerung. Für die Schweiz rechnete der Epidemienforscher Christian Althaus mit 30’000 Toten im Worstcase, und Stefan Felder, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Basel, nannte jüngst sogar 50’000 – das sind 0,35% bzw. 0,58% der Bevölkerung. Für die USA errechnete eine Studie im Fall ausbleibender Interventionen eine Bandbreite von 0,5 bis 10 Millionen Todesopfern – das sind 0,15% bis 3%. Nehmen wir also bei moderaten Vorsichtsmassnahmen (wie der Einhaltung grundlegender Hygieneregeln, der Quarantäne Infizierter und ihren engeren Kontaktpersonen sowie das Verbot von Veranstaltungen mit über 1000 Zuschauern) für die Schweiz eine Mortalität von 0,5% an.

Nehmen wir weiter an, dass sich die Mortalität bei der jetzt praktizierten, konsequenten Stilllegung des öffentlichen Lebens in Szenario A auf 0,1% senken liesse (da nun jeder Patient den Erfordernissen gerecht im Spital behandelt werden kann), und in Szenario B gar auf 0,03% (da nach der ersten Infektionswelle Erkrankungen nicht mehr in signifikantem Ausmass vorkommen), so kommt man auf 34’400 (Szenario A) bzw. 40’400 Leben (Szenario B), die die Lockdown-Strategie in der Schweiz rettet.

Allerdings zeigen verschiedene Untersuchungen aus unterschiedlichen Ländern, dass 90% der verstorbenen Personen über 70 und 50% gar über 80 Jahre alt waren. 99% aller Todesopfer litten an einer Vorerkrankung. Man kann deshalb annehmen, dass diese Personen bei Genesung von Covid-19 im Durchschnitt höchstens noch eine Restlebenserwartung von 10 Jahren gehabt hätten. Damit kommt man auf 344’000 bzw. 404’000 gerettete Lebensjahre. Wollte man das unbedingt in Geld umrechnen, stützte man sich am besten auf ein Urteil des Bundesgerichts von 2010 zur Verabreichung von sehr teuren Medikamenten ab: Dieses legte fest, dass ein Betrag von 100’000 Fr. pro gerettetes Lebensjahr noch angemessen ist. Das ergäbe dann 34,4 Mrd. Fr. (Szenario A) bzw. 40,4 Mrd. Fr. (Szenario B).

Was kostet das?

Im besten Fall (=Szenario B) gälte für 8,6 Mio. Menschen während zwei Monaten ein Lockdown. Bei den von BAK Economics geschätzten wirtschaftlichen Verlusten von 4 Mrd. Fr. pro Woche wären das 34 Mrd. Franken. Szenario A wäre mit 9 Monaten Lockdown (4 jetzt, 5 im nächsten Winter) und demnach mit Einbussen von 156 Mrd. Fr. verbunden, falls nächstes Jahr ein Impfstoff gefunden wird, und mit gar 14 Monaten Lockdown oder 243 Mrd. Fr., falls das bis übernächstes Jahr dauern sollte.

Doch die wirtschaftlichen Einbussen sind längst nicht der ganze, ja wahrscheinlich noch nicht einmal der wichtigste Teil der Rechnung: Wegen Homeoffice und Homeschooling verbringen Familien – egal wie funktional oder dysfunktional – ihr Leben quasi permanent in den eigenen vier Wänden zusammen. Gerade die Ärmeren, die sich kein grosses Haus mit Umschwung in der Agglomeration leisten können, trifft das hart. Noch dazu sind auch alle kleinen (für manche auch grossen) Freuden und Auflockerungen des Lebens – wie Sportveranstaltungen (ob vor Ort oder zuhause am TV), Feste, Shopping, Erlebnisse jeglicher Art – eliminiert, ebenso natürlich Ferien im Ausland. Das hat immense psychologische Kosten zur Folge, die nicht monetär quantifizierbar sind.

Zuletzt darf natürlich nicht vergessen werden, dass auch Wirtschaftskrisen indirekt in erheblichem Ausmass Menschenleben fordern. 2018 wies eine Studie nach, dass die Finanzkrise von 2008 in den USA zu einem statistisch signifikanten Anstieg des mittleren Blutdrucks geführt hat. 2016 berechnete eine andere Studie, dass die darauffolgende Rezession weltweit zu einer halben Million zusätzlichen Krebstoten (mehr stressbedingte Erkrankungen, geringere Behandlungsmöglichkeiten) geführt hat. Des Weiteren soll die Rezession letztlich alleine in Europa und den USA zu 10’000 Selbstmorden und zu einer Million depressiven Erkrankungen geführt haben. Und die jetzige Krise wird mit grosser Wahrscheinlichkeit deutlich schärfer als die Finanzkrise von 2008.

Vielleicht ist es aber, um die Relationen zu erahnen, fast illustrativer, wenn man Kosten und Nutzen des Lockdowns nicht in Geldwerten oder Gesundheitsstatistiken gegenrechnet, sondern schlicht die Lebensjahre im Lockdown den so gewonnen Lebensjahren potenzieller Covid-19-Patienten gegenüberstellt: Szenario B (2 Monate Lockdown) würde, auf die gesamte Schweizer Bevölkerung bezogen, 1,43 Mio. Personenjahre Lockdown bedeuten. Dem stehen 404’000 gerettete Lebensjahre gegenüber. Das entspräche 3,5 Personenjahren Lockdown pro gerettetes Lebensjahr. Szenario A ergäbe bei «Impfstoff 2021» 6,5 Mio. und bei «Impfstoff 2022» sogar 10 Mio. Personenjahre Lockdown. Das entspräche 19 bzw. 29 Personenjahren Lockdown pro gerettetes Lebensjahr.

Was tun?

Nun ist an sich jedem selbst überlassen zu entscheiden, welche Verhältnisse ihm vernünftig erscheinen. Man kann aber wohl schlussfolgern, dass sich die harte Lockdown-Strategie lohnt, falls Szenario B (Best-Case) eintritt. Der Eingriff gibt Zeit, sich vorzubereiten. Diese Zeit wird hoffentlich genutzt, um Schnelltests zu entwickeln, Atemmasken zu produzieren, die Spitalkapazitäten zu erhöhen und kluge Tracing-Technologien zu entwickeln, die ohne die totale Überwachung auskommen. Es wäre zynisch und fatalistisch, sich nicht zumindest diese Chance zu geben.

Die Berechnungen zeigen aber auch, dass die Lockdown-Strategie nicht ohne Risiko ist: Tritt der Best-Case nicht ein, sondern eine der Varianten von Szenario A, dann wird der Lockdown im Verhältnis zu den Leben, die er rettet, bald sehr, sehr teuer. Vielleicht zu teuer – und zwar insofern, als dann für die Vermeidung von Covid-Toten viel mehr Ressourcen eingesetzt werden als für die Vermeidung anderer Todesfälle. Man müsste den Lockdown in Szenario A früher oder später abbrechen. Und: In jenem Fall wäre es dann rückblickend sogar besser gewesen, man hätte ganz auf ihn verzichtet, da mit ihm das erhoffte Ziel nicht erreicht wurde, er aber enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schaden anrichtete.

Im Zweifel werden Regierungen jene Option wählen, die sichtbarere Todesfälle verhindert – das sind die Toten durch Covid-19. Zu wieviel Elend und Tod ein anhaltender Lockdown indirekt führt, werden dagegen erst Jahre später Wissenschafter statistisch zu ermitteln versuchen. Das ist ein guter Grund, warum die Bevölkerung die einschneidenden Freiheitsbeschränkungen, die die Regierungen dieser Welt beschlossen haben oder noch beschliessen werden, einem aufmerksamen Urteil unterziehen sollte.

Wir können nur hoffen, dass die Anpassungsfähigkeit und der Erfindungsreichtum der Menschen zum Eintreten des beschriebenen Best-Case-Szenarios führen, denn in diesem stellen sich keine wesentlichen ethischen Dilemmata. In allen anderen Fällen werden sie sich unweigerlich aufdrängen. Ökonomen wird oft vorgeworfen, sie seien unethisch und herzlos, weil sie gerne Zahlen gegeneinander abwägen, statt sich von Emotionen leiten zu lassen. Doch wenn von zwei Handlungsalternativen beide erhebliches Leid und Tod verursachen, dann sind genau solche Abwägungen unabdingbar. Und sie sind auch nicht unethisch. Ganz im Gegenteil: Es wäre unethisch, sie nicht zu machen.