Telefonieren war gestern. Die Mobil- und Festnetze in der Telekommunikation sind zu allgemeinen Datenübertragungsnetzen geworden. Das Zauberwort heisst All-IP. Das Telekomnetz dient dem Konsumenten als Plattform, auf der er diverse Leistungen auf Basis des Internetprotokolls bezieht. Und diese sog. Layer-3-Leistungen wurden in den vergangenen Jahren immer umfassender und vielfältiger. Dazu gehören neben der Kommunikation (Telefon, SMS, MMS, Mail) und dem allgemeinen Zugang zum Internet auch der Konsum von TV, Online-Games und vieles mehr. Im Grunde lassen sich die Leistungen gar nicht mehr klar separieren, vielmehr wachsen sie durch die Veränderungen bei Angebot und Konsumverhalten immer stärker zusammen. Kurz: Die Grenzen zwischen Telekomunternehmen, TV-Anbietern, Video-on-demand-Diensten, News-Seiten von Verlagen, Social Media Plattformen und Geräteherstellern verwischen sich zunehmend. Nur eines bleibt wie bisher: Die Übertragung der Daten erfordert physische Fest- oder Mobilfunknetze. Und die Netze sind weiterhin in den Händen der Telekomunternehmen. Diese weisen inzwischen auch auf die negativen (Neben-) Effekte des exponentiell wachsenden Datenvolumens hin. Die bestehenden Netze gelangen immer häufiger an ihre Kapazitätsgrenzen und verursachen den Telekomunternehmen und ihren Kunden Kosten und Qualitätseinbussen.

Kapazitätsausbau oder Preisdifferenzierung

Bisher wurde das Datenvolumen kaum aktiv gemanagt. Das heisst, Datenpakete wurden von den Telekomunternehmen üblicherweise ohne irgendwelche Formen von Diskriminierung weitergeleitet. In diesem Zusammenhang wird auch vom Prinzip der «Netzneutralität» gesprochen. Dieses Prinzip ist solange unkritisch, wie es im Netz keine Stauprobleme gibt – das heisst, solange die Netze mit Kapazitätsreserven betrieben werden. Sobald Netz und Router an ihre Kapazitätsgrenzen kommen, kommt es zur Zwischenspeicherung von Daten und Verzögerungen (Delay), und, wenn der Zwischenspeicher nicht mehr ausreicht, zu Datenverlusten (Packet Loss). Damit verbunden sind Qualitätseinbussen bei Layer-3-Dienstleistungen. Das ist bei gewissen Anwendungen wie TV, Videogames oder Telefonie (Voice over IP) gravierender als bei anderen wie Mail, Filesharing oder Downloads. Die sich häufenden Stauprobleme hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass die Endkunden aufgrund von weitverbreiteten Flatrates das von ihnen verursachte Datenvolumen und die damit verbundene Externalitäten im Netz nicht berücksichtigen. Das ist besonders kritisch, wenn die Inanspruchnahme von Layer-3-Diensten mit geringer Wertigkeit jene mit hoher Wertigkeit und hoher Qualitätssensitivität beeinträchtigen oder gar verdrängen. Das Problem kann auf zwei Arten adressiert werden.

  • Erstens könnten die Netzkapazitäten weiter ausgebaut werden. Das allerdings hat den Nachteil, dass dafür alle Netznutzer zahlten, unabhängig von ihrem Konsumverhalten. Ausserdem stellt sich die Frage, ob die Telekomunternehmen tatsächlich ausreichend Anreize haben, ihre Netze auf das wachsende Datenvolumen auszurichten und womöglich gar mit grossen Kapazitätsreserven auszustatten, damit auch während Spitzenzeiten keine Stauprobleme entstehen. Schliesslich könnten die potenziellen Erträge im Zusammenhang mit der Nutzung der Layer-3-Dienste in erster Linie an dritte, unabhängige Anbieter im Netz fliessen. Ganz grundsätzlich stellt sich auch die Frage, ob Überkapazitäten und die damit verbundenen Kosten effizient sind. In der Ökonomie sind Preise eine sinnvolle Alternative für die Steuerung von Nachfrage und Kapazitätsauslastung.
  • Die Stauprobleme könnten alternativ durch ein aktives Management der Datenübertragung gelöst werden. Das heisst, Datenpakete mit hoher Wertigkeit und hoher Qualitätssensitivität würden bevorzugt behandelt, also z.B. nicht zwischengespeichert sondern mit Priorität transportiert. Dies wiederum setzt voraus, dass für eine solche Qualitätsgarantie eine gewisse Zahlungsbereitschaft existiert. Die Lösung wäre insofern effizient, als dass nun höherwertige Dienstleistungen mit einem entsprechenden Preisschild versehen würden. Leistungen mit geringer Wertigkeit und/oder Qualitätssensitivität würden wohl auch in diesem System ohne Zusatzkosten angeboten – denn für die raschere Übertragung gäbe es bei den Nutzern kaum Zahlungsbereitschaft.

Netzneutralität als Produktdifferenzierung

Das differenzierte Management der Datenübertragung ist jedoch umstritten. Häufig wird die Netzneutralität als eine Art Grundrecht für Anbieter und Nutzer im Internet angesehen. Einige Politiker wollen dieses Prinzip sogar gesetzlich verankern. Die obigen Ausführungen illustrieren jedoch, dass eine derart rigide Regelung kaum sinnvoll wäre, da sie ein effizientes Management von Stauproblemen behinderte. Aber unabhängig davon wäre es keineswegs sicher, dass alle Telekomanbieter das Prinzip der Netzneutralität gänzlich fallen liessen. Schliesslich besteht bei den Endkunden eine gewisse Zahlungsbereitschaft für den preislich undifferenzierten Zugang zu allen (unabhängigen) Diensten im Internet. Auch wenn sie das Angebot nicht unbedingt nutzen, so kann es mindestens eine Art Optionswert haben. Netzneutralität kann daher einen Mehrwert darstellen, den Telekomunternehmen aktiv bewirtschaften, um sich gegenüber den Konkurrenten abzuheben.

Kritisch ist die Abkehr vom Prinzip der Netzneutralität vor allem dann, wenn zwischen den Betreibern von Telekomnetzen kein effektiver Wettbewerb besteht. Weil die Telekomanbieter selber Layer-3-Dienste in Konkurrenz zu unabhängigen Dritten ohne Netz anbieten, besteht die Gefahr, dass sie diese diskriminieren. Das geschieht etwa durch besonders hohe Preise für die Einräumung der Priorität bei der Datenübertragung oder gar durch eine gezielte Behinderung der Leistungsqualität. Dadurch können die Telekomanbieter ihre eigenen TV- oder Kommunikationsangebote bevorteilen und unabhängige Anbieter aus dem Markt drängen. Natürlich funktioniert diese Strategie nur bei mangelndem Wettbewerb zwischen den Telekomnetz-Betreibern, also wenn den Endkunden keine Ausweichmöglichkeiten haben. Einschränkend gilt, dass solche Strategien bei Marktbeherrschung über das Kartellrecht adressiert werden könnten. In jedem Fall gilt, dass das Thema Netzneutralität nicht unabhängig von der Konkurrenzsituation in der Telekombranche beurteilt werden kann. Effektiver Wettbewerb zwischen den Telekomnetzen bleibt also auch in Zukunft ein wichtiger Schlüssel für Vielfalt und Innovationen bei den Dienstleistungen, die über das Internet angeboten werden. Konkurrenz in der Telekombranche ist letztlich eine effektivere Lösung als eine (zu) rigide Netzneutralität.