Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise wachsen die Zweifel an der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung bei vielen Menschen. Sie rufen immer lauter nach einem Staat, der die Härten der freien Marktwirtschaft abfedern, Krisen verhindern und für ökonomischen und sozialen Ausgleich sorgen soll. Die Idee der Freiheit wird zunehmend in Frage gestellt. Mit diesem Phänomen setzte sich Gerhard Schwarz am 3. Februar in einem Referat am Gottlieb-Duttweiler-Institut auseinander; ein Auszug daraus erschien am 3. März 2012 in der NZZ. Der zweite Teil dieses (für das Web leicht redigierten) Referats gibt Antworten auf die Frage: Welche Gründe sprechen für die grösstmögliche Freiheit?

1. Freiheit erlaubt es jedem, nach seiner Façon selig zu werden

Was macht die Freiheit bzw. eine freiheitliche Gesellschaft lohnend? Der wohl offenkundigste Grund: Nur eine freie Ordnung erlaubt den Individuen, nach ihrer Façon selig zu werden. Dem steht die unausrottbare Anmassung vieler Menschen, nicht zuletzt vieler Intellektueller, gegenüber: Sie erklären, was sie als gut für sich selbst empfinden, auch für alle anderen als gut. Doch alle solchen Werturteile beruhen auf individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen, sie lassen sich also nicht verallgemeinern.

Weil der Liberalismus Raum schafft für äusserst unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensentwürfe, wird ihm oft vorgeworfen, ihm fehle der moralische Kompass. Diese Stimmen kann man im Nachgang der Wirtschaftskrise, die oft als Wertekrise empfunden wird, besonders oft vernehmen. Damit konfrontiert, sind Liberale häufig etwas hilflos, weil sie eben ausser für den Wert der Freiheit und für den Schutz des Eigentums und von Verträgen kaum für allgemein verbindliche Werte eintreten, ja eintreten können. Eine freiheitliche Ordnung funktioniert zwar nicht ohne ein Mindestmass an Moral, aber wie diese Moral konkret zu definieren ist, dazu kann der Liberalismus nur wenig sagen. Weder Kirche noch Staat können und sollen das vorschreiben. Die moralische Qualität einer freien Gesellschaft liegt nicht darin, dass alle tun können, was sie gemäss irgendeiner kollektiven Instanz tun sollen, sondern sie liegt in der Freiheit, sittlich handeln zu können oder auch nicht. Sie liegt im Appell, für sich und die Seinen Verantwortung zu übernehmen – und damit eben «nach seiner Façon selig zu werden», nicht nur im religiösen Sinn.

2. Freiheit ermöglicht Fortschritt

Leider vergessen wir im freiheitsverwöhnten Westen allzu bereitwillig, dass wir unseren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Fortschritt und Erfolg der letzten Jahrhunderte der Freiheit und der Marktwirtschaft verdanken. Die Freiheit erlaubt Experimente, Versuch und Irrtum, die Suche nach Neuem. Hayek hat den Wettbewerb als grossartiges Entdeckungsverfahren beschrieben, das gilt letztlich für die freiheitliche Ordnung in ihrer Gesamtheit.

Die Innovationskraft offener Gesellschaften wird zusätzlich dadurch gestärkt, dass Freiheit fast zwingend mit einer Non-Zentralität von Institutionen und Entscheiden verbunden ist, jedenfalls mit der Möglichkeit von Nischen. Damit wird die Suche nach Neuerungen wesentlich weniger riskant, als wenn sie zentral erfolgt. Geht in einer ganzen Nation oder Volkswirtschaft ein Experiment schief, hat dies viel gravierendere Folgen, als wenn ein einzelnes Unternehmen oder eine autonome Gemeinde etwas Neues ausprobiert. Eine freie Ordnung ermöglicht in der realen Welt der Knappheit der Güter, der Ideen, der Zeit und des Geldes, dass Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und mit ihren Stärken und Schwächen unternehmerisch Kreativität entwickeln, Kapital erarbeiten, Gewinn erzielen und damit die Produktivität steigern. Darum war die Schweiz mit ihrer vergleichsweise früh freiheitlichen Gesellschaftsordnung ein Magnet für Pioniere und Forscher aus ganz Europa. Sie brachten Innovationen, Veränderung und das Aufbrechen von Traditionen – kurz: Fortschritt.

3. Freiheit ist sozial                                        

Es lohnt sich aber auch, für die Freiheit einzustehen, weil Freiheit sozial ist, auch wenn ein konsequent freiheitliches – und das heisst nicht zuletzt marktwirtschaftliches – System bei vielen als unsozial und ungerecht gilt. Es heisst, der Liberalismus sei allenfalls das Produkt eines kühlen Kopfs, aber gewiss nicht eines warmen Herzens. Das ist sachlich falsch. Es ist genau umgekehrt: Die Marktwirtschaft erweist sich als ausgesprochen soziale Ordnung.

Es kann ja kein Zweifel herrschen, dass die Sorge um und für die Schwächsten wichtig ist, dass sie Grundlage einer humanen Gesellschaftsordnung sein muss. Ob aber etwas verteilt werden kann, hängt davon ab, ob es überhaupt etwas zu verteilen gibt. Deshalb liegt dem Liberalismus zuerst und zuvorderst nicht die Ethik des Teilens, sondern die Ethik des Tauschens und des «Mehrens» zugrunde. Die Marktwirtschaft sorgt für möglichst viele Brote, statt das vorhandene Brot in möglichst viele «gerechte» Scheiben aufzuschneiden. Obwohl die Einkommen in einer Marktwirtschaft naturgemäss ungleich sind, stellt sich der «Schwache» darum in einer freiheitlichen Ordnung wesentlich besser als in einem sozialistischen Gleichheitsstaat. Gleichheit gibt es immer nur auf sehr niedrigem Niveau.

4. Freiheit macht wohlhabend             

Freiheit ist also ein Wohlstandsgenerator. Dass heute etwa zehnmal so viele Menschen auf der Erde leben wie vor dreihundert Jahren (und nicht etwa elender als damals), dass der Wohlstand in Mitteleuropa heute etwa fünfundzwanzigmal so hoch ist wie damals und die Lebenserwartung bei der Geburt etwa dreimal so hoch, verdanken wir jedenfalls in Summe einer freien Ordnung und weder dem Sozialismus noch irgendwelchen Dritten Wegen. Dennoch sollten veritable Freunde der Freiheit nicht zu materialistisch, zu ökonomisch argumentieren. Selbst wenn mehr Wohlstand allgemein als besser angesehen würde als weniger Wohlstand, was in den reichen Wohlfahrtsgesellschaften kaum mehr eindeutig der Fall ist, kann Wohlstand nicht als wirkliches Ideal gelten — für den einzelnen Menschen genau so wenig wie für eine Gesellschaft. Allerdings haben wir eben Glück: Freiheit und Wohlstand stehen nicht im Widerspruch – das ist der Akzeptanz der Freiheit zweifellos förderlich.