Wie ist die militärische Lage in der Ukraine einzuschätzen? Droht ein langer Abnützungskrieg? Diese und ähnliche Fragen standen an der Aula-Veranstaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) in Kooperation mit Avenir Suisse am 1. Dezember in der Universität Bern im Zentrum. Wolfgang Richter, deutscher Brigadegeneral a.D. und Sicherheitsexperte der Uno und der Nato, zeigte sich trotz ermutigenden militärischen Erfolgen der ukrainischen Armee wenig optimistisch. Ein «Siegfrieden» sei in absehbarer Zeit nicht in Sicht.

Um die verschiedenen Szenarien verständlich zu machen, blendete Richter zurück in die 1990er Jahre. Er zeigte auf, wie es zur russischen Wahrnehmung einer Bedrohung durch den Westen, insbesondere durch die Nato gekommen ist. Dazu gehören unter anderem die amerikanischen Truppenstationierungen in Osteuropa und die Erosion der Rüstungskontrolle – was aus russischer Sicht ein Abbau der Sicherheitskontrolle war. Öl ins Feuer hätten die Einflussnahme der Nato in Syrien und in Libyen sowie die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 gegossen. Mit jeder Nato-Erweiterung sei in Russland die Wahrnehmung eines «Kuba-Moments» gewachsen – also der Eindruck, der Gegner rücke allmählich gefährlich nahe.

(Avenir Suisse, sru.)

Wolfgang Richter ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Sie berät den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung sowie die EU, die Nato und die Vereinten Nationen.

2005-2009 leitete Richter den militärischen Anteil der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE, Wien. Zwischen 1999-2005 war er Abteilungsleiter für Rüstungskontrolle im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. Von 1995 bis 1999 vertrat er den militärischen Anteil der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Abrüstungskonferenz in Genf und bei den Uno-Abrüstungsforen in New York.

Davor war Richter Fallschirmjägeroffizier und wirkte im Generalstabsdienst, u.a. im Bundesministerium der Verteidigung und beim Nato-Hauptquartier Shape in Belgien; Nach der deutschen Einheit war Richter Bataillonskommandeur in Marienberg, Sachsen.

Kipppunkt ins Irrationale

Insofern seien die russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 noch rational fassbar gewesen. Damals hatte Russland u.a. den Verzicht auf eine Nato-Erweiterung im post-sowjetischen Raum gefordert sowie den Verzicht auf eine Stationierung von Truppen und Raketen in der Ukraine. Nicht mehr rational hingegen sei Putins imperiales Narrativ gewesen, wonach die Ukraine keine nationale Identität besitze und Teil der russischen Welt sei.

Der Rest ist traurige Geschichte: Am 24. Februar 2022 pulverisierte Russland mit dem Angriffskrieg auf seinen Nachbarn die kooperative Sicherheitsordnung in Europa. Putin griff die Ukraine auf einer 1300 Kilometer langen Frontlinie in sechs parallelen Angriffsachsen an. Der militärische Misserfolg dieser Operation gründete sowohl auf einer politischen Fehleinschätzung als auch auf strategischem Dilettantismus: Russland war vom ukrainischen Widerstand überrascht, und so rächte sich der Angriff ohne operativen Schwerpunkt. Es hätten sich nicht nur ein Mangel an Reserven, Logistik und Führungsflexibilität offenbart, erklärte Richter. Russland sei es weder gelungen, die Luftherrschaft zu erlangen, noch ukrainische Truppenbewegungen zu verhindern. Nicht zu unterschätzen sei zudem die russische Unterlegenheit in der Kampfmoral.

Grosse russische Reserven

Trotzdem ist ein Ende des Krieges durch den Sieg einer der beiden Parteien in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Der Erfolg der «Spezial-Militäroperation» sei für den Kreml von existenzieller politischer Bedeutung. Ausserdem verfüge Russland wenigstens mittelfristig über grosse Reserven. Deshalb sei damit zu rechnen, dass Putin den Luftkrieg weiter intensiviert, durch Frontbegradigungen Kräfte spart und umgruppiert, die Truppen in den Winterstellungen auffrischt und die Offensive fortsetzt.

Dem Westen hingegen ist es bisher nicht gelungen, Russland zu isolieren. Die Sanktionen würden Russland langfristig zwar treffen, den Kriegsverlauf aber nicht kurzfristig beeinflussen, so Richter. Die G7 hätten sich im globalen Süden nicht durchgesetzt, und Russland könne die Sanktionen via Brics-Staaten, insbesondere China und Indien, teilweise kompensieren. Gleichzeitig wächst die ukrainische Abhängigkeit von westlicher Militärhilfe – doch die unterliegt ökonomischen Beschränkungen und politischen Risiken. So sei der Westen nicht auf eine Kriegsproduktion von Rüstungsgütern ausgerichtet, und mit wachsender Kriegsdauer steigen die politischen Unwägbarkeiten – insbesondere in den USA.

Beidseitiger Verzicht auf Maximalziele

Weder die jüngsten russischen Annexionen noch die ukrainischen Forderungen nach einer Wiederherstellung der Grenzen von 2013 sind aus Sicht Wolfgang Richters deshalb verhandelbar. Da ein «Siegfrieden» in weiter Ferne liegt, bleibe nur ein Verhandlungsfrieden, bei dem alle Seiten auf Maximalziele verzichten. Eine Eskalationskontrolle ist das Gebot der Stunde. Doch dazu brauche es den Dialog. Um künftige tragfähige Kompromisse auszuloten, seien Verhandlungsinitiativen gefragt. Es gehe in diesem Konflikt nicht um Moral, sondern um Realpolitik.

Für eine Verhandlungsinitiative gibt es laut Wolfgang Richter jetzt ein Window of opportunity: Sowohl die Ukraine als auch Russland sind christliche Länder: Weihnachten wäre aus seiner Sicht eine gute Gelegenheit für eine erste Geste in Form einer Feuerpause. Jedes Fenster, das sich auftut, könne weitere Fenster öffnen. «Eine Nuklearmacht wird nie kapitulieren», gab der Ex-General abschliessend zu bedenken.