Dieser Kommentar dürfte hier gar nicht stehen. Denn der Sachverhalt ist eigentlich klar und diese Zeilen beinhalten keine wirklich neue Information. Da aber gewisse Gruppierungen wie Mass-Voll und die Freiheitstrychler oder Einzelkämpfer verschiedenster Couleur sich ins Gewand des Liberalismus hüllen, um jegliche Corona-Massnahmen anzuprangern, die Ungeimpfte benachteiligen, sei hier in aller Deutlichkeit – und hoffentlich unnötigerweise – festgehalten: Dass Ungeimpfte auch im schweizerischen Alltag mit zunehmenden Hürden konfrontiert sind, ist nicht unliberal und schon gar nicht mit den Machenschaften des von den genannten Gruppen in grotesker Pietätslosigkeit oft zitierten Dritten Reichs zu vergleichen.
Unliberal sind nicht Massnahmen, die einseitig für Ungeimpfte gelten, unliberal ist ganz im Gegenteil das Verhalten ebendieser Ungeimpften. Denn die Freiheit des einen hört bekanntlich auf, wo sie die Freiheit des anderen beschränkt, und genau das tun Impfverweigerer.
Fassen wir zusammen, was wir zum Thema Impfung wissen:
- Die Impfungen wirken (nicht alle, aber jene, die sich die Schweiz besorgt hat). Zum Glück.
- Sie verhindern mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Krankheitsverläufe.
- Ihre Wirkung lässt schon nach 6 Monaten deutlich nach.
- Was die Infektiosität Geimpfter betrifft, helfen sie leider deutlich weniger als zu Beginn der Impfkampagne oft beteuert wurde. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass die Virenlast Geimpfter gleich hoch sein kann wie jene Ungeimpfter. Immerhin sinkt die Virenlast bei Geimpften schneller. Da aber ein Grossteil der Ansteckungen zu (oder vor) Beginn der Erkrankung passiert, dürfte das die von Geimpften ausgehende Infektionsgefahr gesamthaft nicht massiv reduzieren.
Impfung verhindert nicht Ansteckung, aber Spitalüberlastung
Aus Punkt 4 ist zu schliessen, dass die Debatte um «Massenimmunisierung» unehrlich geführt wird. Mit den gegenwärtigen Impfungen wäre wohl auch mit 100% Impfquote keine Massenimmunisierung erreichbar.
Daraus ist wiederum zu schliessen, dass 2G-Forderungen (geimpft, genesen) aus epidemiologischer Sicht wenig Rechtfertigung haben: Eine ungeimpfte, aber frisch getestete Person ist wohl nicht mit grösserer Wahrscheinlichkeit ansteckend als eine geimpfte, aber ungetestete Person. 2G würde also in erster Linie als indirekter Impfzwang taugen. Da wäre es dann fast ehrlicher, einen expliziten Impfzwang auszurufen. Dass ein solcher an dieser Stelle nicht gefordert wird, liegt nicht daran, dass er unliberal wäre, sondern daran, dass er kaum umsetzbar wäre, wie Historiker Malte Thiessen in der NZZ kürzlich überzeugend darlegte – und dass er weiter Öl ins Feuer des ohnehin schon lichterloh brennenden Impfdisputs giessen würde.
In Fachkreisen unumstritten ist allerdings Punkt 2: Die Impfung verhindert mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Krankheitsverläufe. Eine vollständig geimpfte – und rechtzeitig geboosterte – Bevölkerung würde das Virus in Bezug auf seine Krankheitsfolgen (die noch zu wenig bekannten Auswirkungen der Omikron-Mutation vorbehalten) wohl harmlos genug machen, damit Inzidenzen insofern irrelevant werden, als auch bei massiven Ansteckungswellen eine Überlastung der Spitäler verhindert werden kann.
Jede geimpfte Person trägt also dazu bei, die Spitäler nicht zu überlasten und ermöglicht damit ein Stück Normalität bezüglich sonstiger Einschränkungen. Das ist die Prämisse. Zwar stellen einige Impfgegner – mit absichtlich irreführenden oder sogar schlicht gefälschten Grafiken – sogar diese Prämisse in Abrede, die Datenlage ist hier aber so eindeutig, das sich darüber eigentlich nicht diskutieren lässt.
Zwei unplausible Gründe für Impfverweigerung
Wenn wir also deshalb «Unwirksamkeit» als Argument gegen Impfungen ausschliessen, bleiben noch zwei mögliche Einwände:
- Man glaubt nicht, dass die Impfung Schaden zufügen kann, man hat aber einfach keine Lust auf die Impfung, weil man «ein Zeichen setzen will», weil «die da oben gar nicht meinen müssen», weil «mein Körper mir gehört» oder weil man sich einfach «keine Gene spritzen» lassen will. Das alles fällt in die Kategorie des Trotzes, und solcher Trotz ist angesichts eines der schlimmsten gesundheitlichen Notstände der letzten Jahrzehnte schlicht unangebracht.
- Man glaubt, dass die Impfung mit signifikanter Wahrscheinlichkeit Schaden zufügen kann. Wer sich darum nicht impfen lassen will, ist, nun ja: Ein Egoist. Er findet nämlich: «Sollen die anderen doch das Risiko auf sich nehmen. Ich nicht.» Die anderen tragen dazu bei, dass wir durch diese Pandemie mit möglichst geringen Einschränkungen unseres Lebens gehen können, er nicht. Und mehr noch: Wenn eine Person wirklich glaubt, dass die Impfung gefährlich ist, warum versucht sie dann nicht ehrlich besorgt und mitfühlend, ihre Mitmenschen davon abzuhalten? Interessanterweise spürt man von dieser Sorge wenig. Dafür umso mehr von herablassenden Einstellungen à la «ihr Schlafschafe!»
Nun gäbe es an sich einen einfachen, äusserst freiheitlichen Ausweg aus dieser Bredouille: Wer sich nicht impfen lassen will – weil er ja «ein Immunsystem» habe, das die Impfung unnötig mache – soll sich nicht impfen lassen. Wer (obwohl er könnte) nicht geimpft ist, erhält dann aber – bei erhöhter Spitalbelastung – auch keine Spitalbehandlung, sollte er wider eigene Prognosen einst doch eine nötig haben. Das wäre wahre Eigenverantwortung.
Nun ist in einem aufgeklärten Staat ein solches Vorgehen selbstverständlich derart undenkbar, dass sogar eine öffentliche Diskussion darüber tabu ist. Die Spitäler müssen alle behandeln. Auch Ungeimpfte. Impfverweigerer könnten dieser Gegebenheit zuvorkommen, indem sie Patientenverfügungen unterzeichnen, in denen verbindlich festgehalten wird, dass sie im Zweifel (oder sogar ganz generell) auf eine Behandlung verzichten. Dass die IPS bisher stark von Ungeimpften beansprucht werden, zeigt, dass dies bisher nicht in spürbarem Ausmass passiert.
Genau darum sollten Impfverweigerer nicht Unsinnigkeiten schreien wie «mein Körper». Sollen sie sich nicht impfen lassen; dazu im eigentlichen Sinne zwingen können wir sie nicht. Aber jegliche Beschwerde darüber, dass ihnen als Folge dieser Entscheidung während einer sich zuspitzenden Corona-Lage zunehmend Freiheiten entzogen werden, ist unangebracht. Sie sind nämlich die, die den anderen (den Geimpften) die Freiheit entziehen. Sie sind jene, die Freiheit verhindern.