Die Steuerlehre kennt einige normative Prinzipien für die optimale Gestaltung eines Steuersystems: die Allgemeinheit der Besteuerung, die Steuerneutralität, die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Steuereffizienz.  Je besser diese Prinzipien verwirklicht werden, desto geringer sind die von der Besteuerung ausgehenden Verzerrungen und Fehlanreize und  umso besser sind  die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum.  Aus steuersystematischen Gründen  ist  deshalb die mehrfache Besteuerung des gleichen Sachverhalts  bei allen massgebenden Steuerjuristen und –ökonomen  besonders verpönt.

Offizielle Leitplanken

Die Bundesverwaltung beruft sich in ihren Botschaften, Arbeiten und Analysen gerne auf diese steuerrechtlichen Prinzipien, wie einige zufällig ausgewählte Beispiele zeigen:

  • Der Wachstumsbericht  des EVD aus dem Jahr 2002 unterstreicht die Bedeutung  «der Finanzierung öffentlicher Ausgaben unter Minimierung der negativen Auswirkungen, welche die Abgaben an den Staat auf die Wirtschaft zeitigen» , wobei  vor allem «die Verzerrungen bei der Besteuerung  von Kapital  die freie Allokation von Kapital» behinderten.  Im Sinne einer «best practice» wird empfohlen, sich an den besten Steuersystemen zu orientieren.
  • In den Ausführungen zur Unternehmenssteuerreform II  vom November 2007 hält das EFZD fest, dass «die Schweiz auf ein moderates Steuerklima angewiesen ist. Unser Land schneidet in internationalen Vergleichen im Allgemeinen gut ab. Eine Ausnahme stellt jedoch die Besteuerung ausgeschütteter Unternehmensgewinne dar. Hier belegt die Schweiz lediglich den Platz 28 von 30 OECD-Staaten». Deshalb  wird das Kapitaleinlageprinzip  als wesentliche Entlastung für natürliche Personen gepriesen.
  • Im Bericht des Bundesrates zum Postulat Graber «Strategische Stossrichtung für die Finanzmarktpolitik der Schweiz» vom 16. Dezember 2009 wird diese Haltung bestätigt, schaffe doch die Milderung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung Anreize, Unternehmen mehr Risikokapital zur Verfügung zu stellen.

Diese Besteuerungsprinzipien werden im politischen Alltag leider allzu schnell  opportunistischen oder taktischen Überlegungen geopfert.  Ein eindrückliches Beispiel liefert die laufende politische Diskussion über das Kapitaleinlageprinzip, das mit der Unternehmenssteuerreform II eingeführt wurde und seit Anfang 2011 in Kraft ist. Es ersetzt das Nennwertprinzip, das in doppelter Weise gegen verfassungsrechtliche Besteuerungsprinzipien verstossen hatte. Zum einen wurde der Rückfluss von bereits versteuerten Kapitalanlagen an den Aktionär nochmals besteuert. Zum andern verstiess die Praxis gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Wenn es nach dem Willen von zwei Motionen im Ständerat ginge, soll das Kapitaleinlageprinzip nun wegen zu grosser Einnahmenausfälle wieder rückgängig gemacht oder wenigstens stark eingeschränkt werden.

Dass selbst die Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartements dazu Hand bieten will, macht die Sache pikant, denn erst kürzlich begründete der Bundesrat seine Ablehnung des Steuerabzugs für das Bausparen am 23. Februar 2011 – neben Zweifeln an der sozialpolitischen Wirksamkeit – mit der Verletzung verfassungsrechtlicher Besteuerungsprinzipien  (Grundsätze der Allgemeinheit, der Gleichmässigkeit der Besteuerung und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit).

Prinzipien sind nicht beliebig

Wirtschaftspolitische Prinzipien, auch Besteuerungsprinzipien entfalten ihre Orientierungskraft nur, wenn man sich nicht bloss in Schönwetterperioden an ihnen ausrichtet, sondern auch in turbulenteren Zeiten.

Verfassungsrechtliche Besteuerungsprinzipien gelten, so sollte man meinen, eigentlich  immer. Bundesrat und Bundesverwaltung können sie nicht einfach nach politischer Opportunität einsetzen, wollen sie ihre Glaubwürdigkeit nicht leichtfertig verspielen.

Auch der Verweis auf «Best-practice-Methoden» – im vorliegenden Fall die Orientierung an der Prioritätsregel der Hochsteuerländer Deutschland, Frankreich und Italien, bietet keinen Ausweg. Die Regel verlangt, dass zuerst – solange vorhanden – die Gewinnreserven ausgeschüttet werden; erst dann können Kapitaleinlagenreserven steuerfrei zurückgezahlt werden.

Gemäss Steuerrechtsprofessor René Matteotti von der Universität Bern würde damit aber nicht nur das akzeptierte steuerpolitische Postulat, zwischen Eigen- und Fremdkapital  Finanzierungsneutralität herzustellen, verletzt (vgl. NZZ vom 31.5.2012), sondern faktisch würde die Prioritätsregel zur Abschaffung  des Kapitaleinlageprinzips führen. Die Folge wäre, dass erfolgreiche Unternehmen mit einer dynamischen Gewinnentwicklung bestraft würden, weil sie ihre Kapitaleinlagen nie zurückzahlen könnten. Statt die unternehmerische Freiheit als Standortfaktor zu stärken, würde diese eingeschränkt.

Man kann deshalb nur wiederholen, was das D A CH Reformbarometer  2011, das vom Institut der Deutschen Wirtschaft, der Wirtschaftskammer Österreich und Avenir Suisse jährlich veröffentlicht wird,  zum Kapitaleinlageprinzip gesagt hat:

 «Wenn eine steuersystematisch falsche Besteuerung der Rückzahlung von Kapitaleinlagen durch eine Gesetzesrevision richtiggestellt wird, kann korrekterweise nicht von  «Mindereinnahmen» oder «Steuerausfällen» gesprochen werden, fliessen doch lediglich  bisher fälschlicherweise erhobene Steuern nicht mehr in die Staatskasse. Es ist zu hoffen, dass der Bundesrat in dieser Sache konsequent bleibt…..und die Wahlfreiheit der Unternehmen, ob sie Dividenden aus Gewinnreserven oder Kapitaleinlagereserven ausschütten wollen, nicht über die Hintertür wieder einschränkt.»