"Tinizong02“ von I, Paebi. (Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons)

In Tinizong (Graubünden) arbeiten Einheimische zusammen mit einer Gruppe von Zweitwohnungsbesitzern an einem Massnahmenpaket zur Dorferneuerung. (Bild: Wikimedia Commons)

In den Schweizer Berggebieten geraten zentrale Quellen der Wertschöpfung unter Druck: Der ohnehin schwierige Strukturwandel im Tourismus wird durch die Frankenaufwertung verschärft, die Zweitwohnungsinitiative lässt die Baubranche schrumpfen, fallende Strompreise erodieren die Profitabilität der Wasserkraft, und von Land- und Forstwirtschaft sind kaum Wachstumsimpulse zu erwarten.

Um alternative Wertschöpfungsquellen zu erschliessen, sind neue Geschäftsmodelle gefragt. Um diese zu entwickeln, gilt es, eine zentrale Ressource zu aktivieren, die noch zu wenig genutzt wird: die Zweitwohnungsbesitzer, mit denen die Berggebiete reich gesegnet sind. In der Schweiz gibt es rund 520 000 Zweitwohnungen, die meisten davon im Alpenraum. In Graubünden, dem Wallis oder dem Berner Oberland liegt ihr Anteil bei über 40 Prozent, in vielen Tourismusgemeinden sogar weit darüber. Lange wurden Zweitwohnungsbesitzer von Einheimischen vor allem als Immobilienkäufer, Touristen und Steuerzahler geschätzt.

Sie haben aber für die wirtschaftliche Entwicklung in den Berggebieten viel mehr zu bieten, nämlich innovative Ideen, Investitionen und Unternehmertum. Zweitwohnungsbesitzer sind häufig einkommensstark, vermögend, gut ausgebildet und mobil. Gemäss einer Erhebung in Davos hatten sie im Schnitt ein steuerbares Einkommen von 200 000 Franken im Jahr – gut das Dreifache des Bündner Durchschnitts. Unter ihnen finden sich viele Selbständige, Unternehmer und Personen mit wertvollen Netzwerken im In- und Ausland. Dank ihrem oft emotionalen Bezug zum Zweitdomizil haben sie eine grundsätzliche Bereitschaft, sich dort zu engagieren und einzubringen.

Es gibt viele Beispiele, wie die Berggebiete davon profitieren. Bereits die Gründung der Rhätischen Bahn ging auf die Initiative eines Auswärtigen – des Niederländers Willem Jan Holsboer – zurück, der wegen der Lungenkrankheit seiner Frau in Davos Wohnsitz nahm. Derzeit investieren zwei finanzkräftige Zweitwohnungsbesitzer Millionenbeträge in die Bergbahnen Saas Fee und Disentis und bringen sich in deren Management ein. Die Laser-Firma Trumpf schuf in Graubünden mehrere hundert Arbeitsplätze nahe dem Zweitwohnsitz des Patrons. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Investments in Gastronomie oder Hotellerie durch Unterländer im Alpenraum, bei denen häufig ideelle Motive mitschwingen oder der Wunsch, das Umfeld am Zweitwohnsitz positiv zu beeinflussen.

In Tinizong (Mittelbünden) arbeiten Einheimische zusammen mit einer Gruppe von Zweitwohnungsbesitzern an einem Massnahmenpaket zur Dorferneuerung: Unter dem Schirm eines gemeinsamen Trägervereins entsteht ein neues Dorf- Begegnungszentrum mit Versorgungsfunktion. Die Vitalisierung des Dorfkerns soll mit einer systematischen Aufwertung und Nutzung der leer stehenden historischen Gebäude einhergehen. In der Gemeinde Medel (Surselva) bringt sich seit 2010 ein Manager aus dem Unterland als Hotelbesitzer und Gemeindepräsident ein, und in der benachbarten Gemeinde Tujetsch bewirbt sich ebenfalls ein Zweitwohnungsbesitzer um dieses Amt.

Was können die Bergregionen tun, um die Zweitwohnungsbesitzer noch stärker zugunsten ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu mobilisieren? Zunächst sollten sie diese nicht wie Milchkühe behandeln, sondern wie Partner. In einigen Gemeinden, etwa in Silvaplana, haben Pläne zur Einführung von Abgaben für Zweitwohnungen die Betroffenen verstimmt. Solche Abgaben können durchaus sinnvoll sein, wenn sie Anreize zur Vermietung kalter Betten setzen oder zur Finanzierung touristischer Infrastruktur beitragen. Damit sie jedoch nicht als unfaire Abzocke der Auswärtigen empfunden werden, müssen sie auch entsprechend ausgestaltet werden. Ferner ist es wichtig, dass sie in einem transparenten und konsultativen Verfahren eingeführt werden.

Eine Möglichkeit wäre es, den nicht stimmberechtigten Zweitwohnungsbesitzern über konsultative Gremien auf Gemeindeebene («Rat der Zweitwohnungsbesitzer») ein Mitspracherecht über die Verwendung der Mittel aus der Zweitwohnungsabgabe zu geben. Über derartige Gremien könnten jene ihre Anliegen und Ideen in die Gemeindepolitik einbringen. Denkbar wäre es auch, gewisse Milizämter für Zweitwohnungsbesitzer zu öffnen. Ferner könnten Gebirgskantone Beauftragte für Zweitwohnungen benennen, die als Relationship-Manager fungieren ähnlich den Alumni-Beauftragten einer Universität. Unter anderem wäre es denkbar, dass sie sich aktiv darum bemühen, Zweitwohnungsbesitzer für bestimmte Projekte zu gewinnen.

Steuerliche Anreize könnten helfen, Zweitwohnungsbesitzer zur Verlegung ihres Wohnsitzes zu bewegen. Dies brächte nicht nur Steuersubstrat ins Berggebiet, es würde die Auswärtigen auch zu Stimmbürgern machen und für ein stärkeres persönliches oder unternehmerisches Engagement vor Ort motivieren. Eine grosse Chance ist dabei die Tatsache, dass die Babyboomer-Generation in den nächsten Jahren das Pensionsalter erreicht. Diese häufig wohlhabenden und gut ausgebildeten «Neurentner» sind frei in der Wohnortwahl, häufig kapitalstark, sehr aktiv und suchen nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben neue Betätigungsfelder. Diese Beispiele zeigen, dass es noch viel Potenzial gibt für die bessere Einbindung der Zweitwohnungsbesitzer und für ihr Engagement zur wirtschaftlichen Entwicklung im Alpenraum. Viel von diesem Engagement entsteht freiwillig und spontan. Aber auch die Gebirgskantone, Tourismusgemeinden und Einheimischen können ihren Teil dazu beitragen, das partnerschaftliche Verhältnis zu den Zweitwohnungsbesitzern weiterzuentwickeln.

Die Berggebiete können ihre Ideen, ihre Kontakte, ihre Investitionen und ihr Unternehmertum gut gebrauchen.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 02. März 2015.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.