Irene Bättig: Herr Müller-Jentsch, Sie fordern mehr Kostenwahrheit bei der Mobilität, auch beim öffentlichen Verkehr. Wie wollen Sie dies angehen?

Daniel Müller-Jentsch: Wir sind heute sehr weit von der Kostenwahrheit entfernt: Der Eigenfinanzierungsgrad der Bahn beträgt nur etwa 41 %. Der Steuerzahler muss also 59 % berappen. Und die Strasse deckt die externen Kosten nicht, die durch Luftverschmutzung, Staus oder Unfälle entstehen. Bei dem von uns geforderten Mobility Pricing geht es grundsätzlich und zwei Dinge: Wir wollen einerseits einen höheren Kostendeckungsgrad der Verkehrsträger, das heisst, der Benutzer soll stärker an den Kosten beteiligt werden. Andererseits fordern wir differenzierte Tarife, die zeitliche und streckenabhängige Engpässe berücksichtigen.

Würden Sie generell sagen, dass die Mobilität in der Schweiz zu günstig ist?

Ja, ganz klar. Ein Indiz dafür ist alleine schon das rasante Verkehrswachstum: In den 2000er-Jahren ist die Bevölkerung in der Schweiz um 10% gewachsen, das BIP um 20 %. Im gleichen Zeitraum hat der Verkehr auf der Nationalstrasse um 40 % und der Personenverkehr auf der Schiene um 50 % zugenommen. Der Verkehr ist also vier- bis fünfmal so schnell gewachsen wie die Bevölkerung und zwei- bis zweieinhalb Mal so stark wie die Wirtschaft. Diese Zahlen zeigen, dass sich die Mobilitätsnachfrage von den zugrunde liegenden demographischen und wirtschaftlichen Grunddaten entkoppelt hat. Durch Subventionen provozieren wir eine Übermobilität.

Welchen Kostendeckungsgrad erachten Sie für den öV als sinnvoll und realistisch?

Der erste Schritt wäre, dass sich die Politik auf einen zentralen Indikator beim Kostendeckungsgrad verständigt. Statt des Wirrwarrs um die verschiedenen Statistiken wird eine Grösse festgelegt, an der wir uns orientieren. Dann können wir über konkrete Ziele sprechen. Aus unserer Sicht wäre ein sinnvolles Ziel, den Kostendeckungsgrad bis 2030 um mindestens zehn Prozentpunkte zu erhöhen. Anschliessend müsste die Politik die Massnahmen festlegen, um sich schrittweise diesem Ziel zu nähern.

Eine volle Kostendeckung des öV streben Sie also nicht an. Dann halten Sie die Quersubventionierung durch die Strasse für legitim?

Aus zwei Gründen halten wir eine Subventionierung in Massen für legitim: Weil erstens die externen Kosten bei der Bahn deutlich niedriger sind als auf der Strasse, ist eine Umverteilung von Strassengebühren zugunsten des ÖV volkswirtschaftlich vertretbar. Zweitens existiert eine historisch gewachsene Arbeitsteilung zwischen Strasse und Schiene, mit der wir arbeiten müssen. Wenn wir die relativen Preise zwischen Strasse und Schiene zu sehr verändern, kommt es zu einer Verkehrsverlagerung, die wir derzeit nicht bewältigen könnten. Langfristiges Ziel sollte sein, bei Strasse und Schiene einen möglichst geschlossenen Finanzierungskreislauf herzustellen. Die Fondlösungen, die man jetzt mit FABI und dem Nationalstrassen- und Agglomerationsinfrastrukturfonds (NAF) konzipiert hat, sind Ansätze für einen geschlossen Finanzierungskreislauf. Sie müssen aber weiterentwickelt werden.

Welche Massnahmen schlagen Sie vor, um den Kostendeckungsgrad zu erhöhen?

Für uns liegt der Fokus nicht allein auf einer Erhöhung der Tarife, sondern vor allem auf der Ausdifferenzierung. Die Infrastruktursysteme weisen sehr hohe Fixkosten auf. Gleichzeitig haben wir eine sehr variable Nachfrage und eine entsprechend ungleichmässige Kapazitätsausnutzung. Die Sitzplatzauslastung bei der SBB beträgt im Fernverkehr durchschnittlich 32 %, im Regionalverkehr 20 %. Das bedeutet, 70 % bis 80 % der Kapazität liegt brach. Doch aufgrund der Verkehrsspitzen haben die Nutzer das Gefühl, das System sei kurz vor dem Kollaps. In den Stosszeiten von 2–3 Stunden an den Werktagen stossen die Systeme an die Belastungsgrenzen. Die normale Reaktion in einem freien Markt auf eine so variable Nachfrage bei gleichzeitig hohen System und Fixkosten sind differenzierte Tarife, wie sie etwa in der Hotellerie oder im Flugverkehr längst akzeptiert sind. Im Schweizer öV hingegen hält man an uniformen Tarifen fest und schafft für die zwei- bis dreistündigen Spitzen immer wieder neue Kapazitäten – mit Milliardeninvestitionen. Das ist horrend teuer und ineffizient.

Sie wollen also Pendler mit höheren Tarifen bestrafen?

Ich höre immer wieder, dass wir die armen Pendler nicht noch mit höheren Rushhour- Preisen belasten dürften. Doch heutzutage sind die Pendler in der Schweiz dreifach privilegiert. Der Verkehr ist subventioniert, es gibt Mengenrabatte für Pendler, beispielsweise das Generalabonnement, und sie profitieren von einem Pendlerabzug bei der Steuer. Wir müssen einen Teil dieser Privilegien zurücknehmen. Eine Möglichkeit wäre eine Abkehr vom Generalabonnement hin zum Streckenabonnement. Pendlerinnen und Pendler erhalten für den Arbeitsweg vergünstigte Tarife, aber nicht noch obendrauf eine Flatrate für Wochenenden, für die Ferien und sämtliche anderen privaten Mobilitätsbedürfnisse.

Sie wollen durch höhere Tarife in der Rushhour Anreize schaffen, dass die öV-Nutzer auf andere Zeiten ausweichen. Viele Arbeitnehmende haben aber keine flexiblen Arbeitszeiten.

Die Nutzer des Verkehrssystems können natürlich nur auf Preisanreize reagieren, wenn sie gewisse Freiheitsgrade haben. Dafür müssen auch die Arbeitgeber mit flexiblen Arbeitszeiten oder Home-Office-Lösungen sorgen. Es ist schliesslich auch im Interesse der Arbeitgeber, dass Mitarbeiter im morgendlichen Stau oder im überfüllten Zug nicht verschlissen werden. Dank der neuen Technologien sind hier viele Lösungen denkbar. Ganz wichtig scheint mir auch die Entzerrung der Startstunden in den Ausbildungsstätten. Alle Schulen, Fachhochschulen und Universitäten beginnen am Morgen gleichzeitig. Hier müssen verschiedene Akteure künftig etwas mehr Flexibilität an den Tag legen.

In der Produktion, im Gastgewerbe oder im Verkauf sind flexible Arbeitszeiten kaum zu machen. Die höheren Preise würden also gerade diejenigen treffen, die finanziell nicht sehr gut gebettet sind. Finden Sie das nicht problematisch?

Wenn wir schon eine bestimmte Gruppe subventionieren wollen, dann sollten wir das wenigstens gezielt tun. Heute werden jedoch alle subventioniert, unabhängig von ihrem Einkommen, von ihrem Vermögen und von ihrer Lebenssituation – quasi mit der Giesskanne wird über die gesamte Bevölkerung ein Milliardenstrom an Subventionen verteilt. Es wäre sinnvoller, nach klar definierten sozialen oder ökonomischen Kriterien bestimmte Gruppen zu entlasten, zum Beispiel junge Menschen in Ausbildung.

Aber gerade das Rentner-GA, das Sie abschaffen wollen, ist eine gezielte Subvention einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.

Aus sozialpolitischer Sicht macht es keinen Sinn, alle Rentner, egal wie wohlhabend und einkommensstark sie sind, ab 65 tarifmässig zu privilegieren. Wir schlagen vielmehr vor, das heutige Rentner-GA durch ein Talzeiten-GA für alle Altersgruppen abzulösen. Wer nach 9 Uhr fährt, kann günstiger fahren, da er die Verkehrssysteme entlastet. Rentner sind zeitlich flexibler und würden davon besonders profitieren.

Sie schlagen abgestufte Tarife vor. Wären öV-Kundinnen und -Kunden damit nicht überfordert?

Schauen Sie, wie flexibel Menschen bei Internet- und Smartphone-Applikationen sind, wie systematisch sie durch die digitale Welt navigieren und alles mögliche optimieren! Warum sollten sie diese Gewohnheiten nicht auch im Bereich Verkehr und Alltagsmobilität anwenden? Aber trotzdem gilt: Auch wir wollen keinen Tarifdschungel, das Preissystem darf nicht zu komplex sein, damit die Nutzer ihr Verhalten optimieren können.

Wie würde das aussehen?

Ich stelle mir ein relativ einfaches System vor, das mit wenigen Tarifstufen arbeitet: Rushhour, Talzeiten, Freizeitverkehr und Mengenrabatte. Langfristig sehen wir ein elektronisches Ticketing-System, das die Fahrten beim Ein- und Aussteigen automatisch erfasst und einen entsprechenden Tarif vom persönlichen Konto abbucht. So kombinieren wir den Komfortfaktor des GA mit variablen Tarifen. Ein solches System wurde in den Niederlanden bereits landesweit eingeführt.

In der Schweiz soll der öV auch einen gewissen Service Public garantieren. Wie viel ist dieser wert?

Wir halten einen Service Public in Massen für legitim. Der öffentliche Verkehr erfüllt sicherlich eine Service-Public-Funktion. Doch irgendwo hat das Konzept der staatlich subventionierten Grundbedürfnisse auch seine Grenzen. Es ist sicherlich unstrittig, dass das Postauto im entlegenen Bergtal zum Service Public gehört. Aber es heisst nicht unbedingt, dass der 15-Minutentakt der S-Bahn automatisch auch Service Public ist. Unter dem Deckmantel des Service Public werden auch Anliegen umgesetzt, die eigentlich regionalen Partikularinteressen dienen. Ein Beispiel: Mit FABI schlug der Bundesrat ein 3-Milliarden-Ausbaupaket vor. Um das Geschäft mehrheitsfähig zu machen, kam es dann mit 6 Milliarden wieder aus dem Parlament. Diese Art der Verkehrsfinanzierung im Föderalismus führt zu sehr teuren und ineffizienten Lösungen. Wir sind zweifelsohne für eine akzeptable Versorgung der Randregionen. Diese ist in der Schweiz bereits sehr gut. Die grossen Verkehrsprobleme herrschen vor allem in den Agglomerationen. Doch haben wir heute eher die Situation, dass die Agglomerationen, die das System mit ihren Steuern zum Grossteil finanzieren, durch diesen Föderalismus eher benachteiligt werden. Die ländlichen Regionen werden gegenüber den grossen Ballungszentren bevorzugt behandelt.

Wie müsste ein Mobility-Pricing, wie Sie es vorschlagen, ausgestaltet werden?

Zentral ist, nicht einseitig einen Verkehrsträger zu belasten oder zu entlasten. Strasse und Schiene ergänzen sich heute sehr gut. Sie bilden ein Gesamttransportsystem. Es gibt ein austariertes Gleichgewicht zwischen beiden Verkehrsträgern, das historisch gewachsen ist. Wenn wir nun die relativen Preise verschieben, gibt es Ausweichbewegungen. Doch beide Systeme sind heute weitgehend am Anschlag. Sie haben ihre Kapazitätsgrenzen in vielen Bereichen erreicht. Eine Verschiebung von Verkehrsströmen zwischen den Verkehrsträgern würde neue Probleme schaffen, die nicht zu bewältigen sind. Deshalb gilt es Reformen in Richtung eines Mobility Pricing auf beiden Verkehrsträgern parallel in Angriff zu nehmen.

Dieses Interview (Download PDF) erschien im Magazin «BY RAIL. NOW!» 2014.
Mit freundlicher Genehmigung von «BY RAIL. NOW!».