Jorgos Brouzos: Herr Müller, Sie sagen, dass das Finanzsystem grundlegende Fehler hat. Eine Folge davon: Gewinne werden privatisiert und landen als Boni bei Managern, die Verluste übernehmen die Steuerzahlenden. Das klingt nicht nach einem Argument des Direktors einer liberalen Denkfabrik.

Jürg Müller: Avenir Suisse hat schon 2010 die Studie «Too big to fail und die Wiederherstellung der Marktordnung» veröffentlicht. Für uns als klassische Liberale geht Freiheit mit Verantwortung einher. Und dieses Grundprinzip wird in der heutigen Finanzarchitektur immer wieder verletzt.

Geraten Banken in Schieflage, können sie eine Finanzkrise auslösen, und die kann sich keine Regierung leisten. Das wissen die Bankmanager. Sie können davon ausgehen, dass die Banken gerettet werden, und gehen daher Risiken ein. Wie lässt sich das Problem lösen?

Das Bankwesen schafft systemische Risiken. Es geht also am Ende nicht einfach um einzelne Banken, sondern um das Finanzsystem als Ganzes. Im heutigen System müssen in Krisen zur Stabilisierung immer wieder Firmen staatlich gestützt werden. Um diese Verletzung von Marktprinzipien zu verhindern, müssen wir das System als Ganzes verbessern.

Neuerscheinung

Jürg Müller hat unter dem kollektiven Pseudonym Jonathan McMillan das Buch «Capitalism and the Market Economy» veröffentlicht. Das Buch erscheint auch auf Deutsch.

Die Diskussion geht aber in eine andere Richtung. In der Schweiz versuchen wir derzeit, das bestehende System notdürftig zu flicken, damit wir bei der nächsten Bankenkrise besser gerüstet sind. Es geht um Eigenkapitalanforderungen und strengere Regeln für Manager. Bringt das etwas?

Wie wir gesehen haben, sind das «Pflästerli», die im Ernstfall nicht halten. Das grundlegende Problem in unserem Finanzsystem wird mit solchen Massnahmen nicht gelöst.

Was sollten wir stattdessen tun?

Die Probleme der heutigen Finanzarchitektur müssen auf internationaler Ebene angepackt werden. Es ist vergleichbar mit dem Klimawandel: Es ist ein Problem, das wir in der Schweiz allein nicht lösen können. Heisst das jetzt, dass wir in der Schweiz nichts unternehmen sollen? Nein, wir können nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Doch das richtig anzugehen wird schwierig, denn systemische Finanzkrisen machen nicht an der Grenze halt.

Sie schreiben, dass Banker Buchhalter sind, die zu Alchemisten wurden. Wie meinen Sie das?

Die Metapher stammt vom ehemaligen Chef der englischen Zentralbank, Mervyn King. Das Bankwesen vermittelt nicht einfach Geld und Kredit, sondern es schafft Geld und Kredit. Das war bei der Gründung der Bank of England vor mehr als 300 Jahren revolutionär. Damals ist dann auch die Literatur dazu, wie Gold aus anderen Metallen geschaffen werden kann, praktisch verschwunden – dafür wird seither viel über die neuen Krisenzyklen geschrieben.

Jürg Müller: «Das Bankwesen schafft systemische Risiken. Es geht also am Ende nicht einfach um einzelne Banken, sondern um das Finanzsystem als Ganzes.» (Keystone/Gaetan Bally)

Wie sieht Ihre Lösung aus, um davon wegzukommen?

Seit je werden einzelne Banken reguliert. Mit der Digitalisierung funktioniert dieser Ansatz nicht mehr. So hat etwa auch die Finma festgehalten, dass sich «Bank Runs» enorm beschleunigt haben. Die Digitalisierung bietet jedoch auch Chancen: Sie erlaubt eine neue, marktbasierte Finanzarchitektur. Damit sich diese entwickeln kann, schlagen wir eine sogenannte systemische Solvenzregel vor. Diese verhindert finanzielle Kettenreaktionen im System: Wenn man sich alle Firmen als Dominosteine vorstellt, stellt diese Regel sicher, dass die Dominosteine genügend weit auseinanderstehen. Staatliche Auffangnetze und die entsprechende Regulierung für die Banken werden damit langfristig überflüssig.

Wie würde Ihr Modell konkret aussehen?

Im Buch beschreiben wir ein solches Beispiel ausführlich. Interessant ist, dass sich für die Kunden wegen der Digitalisierung nichts ändert. Die Schnittstelle zum Finanzsystem bleibt gleich. Egal ob als Firma oder Privatperson, man würde weiterhin mit einem Finanzinstitut die Ersparnisse organisieren und Kredite aufnehmen. Die «Verkabelung» im Hintergrund wäre jedoch dezentral und marktbasiert organisiert. Die Finanzinstitute wären echte Intermediäre und würden Geld und Kredit vermitteln, nicht aber mehr systemische Risiken schaffen.

Wie würde der Wechsel auf das neue System ablaufen?

Das bisherige und das neue System würden nebeneinander existieren. Wir glauben jedoch, dass am Ende das neue, marktbasierte Modell effizienter wäre und sich langfristig durchsetzte.

Viele verstehen Kryptowährungen wie Bitcoin unter einem dezentralen Finanzsystem. Ihnen schwebt aber etwas ganz anderes vor. Sie schreiben sogar, dass neue Technologien rasch von Finanzfirmen vereinnahmt würden und die Gefahr von Krisen noch vergrössern.

Ja, weil Technologie allein das grundsätzliche Problem der heutigen Finanzarchitektur nicht löst. Das sieht man bei sogenannten Stable Coins, die staatliche Währungen wie den US-Dollar im System der Kryptowährungen abbilden. Diese Strukturen schaffen teilweise wie das Bankwesen systemische Risiken.

Und nicht nur dort gibt es neue Risiken. Denn heute sind nicht mehr nur Banken systemrelevant, sondern auch Versicherungen, Rohstoffhändler oder Energieunternehmen. Wer kommt als Nächstes – und wie kommen wir da raus?

Die Geschichte zeigt: Jede Firma kann systemische Risiken schaffen, keineswegs nur Banken. Um dieses Problem zu lösen, brauchte es ein international koordiniertes Vorgehen – das ist möglich, das zeigt die heutige Bankenregulierung.

Das ist kompliziert. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass man nicht einfach das kurzfristige Problem löst, sondern das Problem grundsätzlich angeht?

Ich glaube, Menschen haben ein Interesse an nachhaltigen Lösungen. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Unser Buch ist ein Denkanstoss, um neue Ideen in Betracht zu ziehen. Ich frage mich nur: Wie viel Zeit bleibt zur Vorbereitung auf die nächste Krise?

Also, wann kommt die nächste Krise?

Das können wir nicht wissen. So wusste vor der Finanzkrise von 2008 niemand, wo die systemischen Risiken in der unglaublich komplexen Finanzarchitektur lagen. Das ist heute nicht einfacher. Daher wissen wir nicht, wo die nächste Krise entstehen wird. Wir wissen nur, dass sie kommen wird. Meine grösste Sorge ist, dass sie in einer Währungskrise oder in einer Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er Jahren münden könnte. Beides hätte verheerende gesellschaftliche Auswirkungen.

Läuft es nicht auf etwas anderes hinaus? Wir ergreifen ein paar Massnahmen, denken, das Problem sei nun gelöst, und sind dann überrascht, wenn es wieder knallt.

Sind wir wirklich überrascht? Wir wissen, dass unser heutiges Finanzsystem anfällig für Krisen ist. Ich finde es daher erstaunlich, dass keine grundsätzlichen Fragen gestellt werden. Wieso diskutieren wir keine neuen Ansätze? Denn das, was wir jetzt jahrzehntelang versucht haben, funktioniert nicht.

Viele verteidigen die «Too big to fail»-Regeln. Sie hätten es erst ermöglicht, dass sich die UBS die CS rasch einverleiben konnte und eine Finanzkrise abgewendet wurde.

Das ist ein eigenartiges Argument. 2008 war der Aufschrei gross. Es hiess damals, es dürften in einer Bankenkrise nie mehr Notrecht und staatliche Garantien zum Zug kommen. Nun kommt der erste Ernstfall mit den seither eingeführten Regeln, und was haben wir? Notrecht und staatliche Garantien. Und das ist keineswegs einzigartig. Die Geschichte zeigt: Immer wieder, wenn es zu einem Ernstfall kommt, macht man eine Ausnahme. Diese Ausnahmen sind keine Schönheitsfehler, sondern Teil der heutigen Finanzarchitektur – und sie zersetzen letztlich das Vertrauen in eine freie Marktwirtschaft.

Dieses Interview ist am 9. April 2024 bei Tamedia erschienen.