Weissbücher schreibt man nicht alle Tage, und oft ist eine ausgewachsene Krise der Anlass, eine solche Auslegeordnung vorzunehmen. In einer akuten Krise steckt die Schweiz derzeit nicht. Die Wirtschaft wächst – wenn auch nur langsam –, die Arbeitslosigkeit liegt tief, und man beneidet uns um unser Bildungssystem. Warum also hat Avenir Suisse das «Weissbuch Schweiz – Sechs Skizzen der Zukunft» publiziert? Gewiss nicht aus Alarmismus auf Vorrat, denn vorausblickend gibt es gewichtige Gründe.

Ökonomische Realität verkannt

In der Schweiz herrscht seit Längerem politischer Stillstand, um nicht zu sagen eine Art Reformparalyse, und dies sowohl an der Innen- als auch an der Aussenfront. Im Innern schafft es das Land nicht mehr, selbst dringliche Reformen auf den Weg zu bringen. Die Rede ist etwa von den Unternehmenssteuern und der Altersvorsorge. Wir üben uns immer mehr in kleinlichen Verteilkämpfen. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Unternehmenssteuern zuerst mit den Kinderzulagen, und nun – geht es nach dem Ständerat – mit der Altersvorsorge verbandelt werden sollen? Dass kluge Reformen alle Boote im Land heben können, davon spricht niemand mehr.

In einer derartigen Gemütslage befinden sich in der Regel Länder, die wirtschaftlich kaum mehr wachsen. Unschlüssig und gespalten zeigt sich die Schweiz auch in der Beziehung zur EU. Weidlich werden die Schwierigkeiten der EU dazu benutzt, uns vorzuführen, dass die Schweiz ihr so fern wie möglich bleiben sollte. Nicht wenige hoffen heimlich gar auf ihr baldiges Ende. Diese Sichtweise verkennt die ökonomischen Realitäten auf gravierende Weise und blendet die globalen Entwicklungen aus: Die USA, China und Europa bilden die drei geopolitisch wichtigen Blöcke.

Die Schweiz braucht eine möglichst breite Diskussion über ihre Zukunft. Im Bild die Landsgemeinde von Hundwil von 1949. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Global gesehen ist die Schweiz ein ökonomisches Puzzlestück Europas. Sie tut daher gut daran, sich als Teil Europas zu verstehen. Neben Irland und Belgien ist sie das Land, das wirtschaftlich am tiefsten im EU-Binnenmarkt integriert ist. Wirtschaftlich gesehen sind wir europäischer als die meisten EU-Länder. Dies gilt für den Güteraustausch und Dienstleistungshandel genauso wie für Kapitalströme und die Arbeitsmigration.

62% unserer Güter und gut 50% unserer Dienstleistungsexporte gehen in die EU. Wie kaum ein anderes Land hat die Schweiz von der Stabilität profitiert, die die EU dem Kontinent trotz allen Schwierigkeiten beschert. Gerade Basel lebt so stark von mannigfaltigen Austauschbeziehungen mit dem EU-Raum wie kaum eine europäische Metropole. Immer wieder wird die Wachstumsschwäche der EU ins Feld geführt, sowohl als Argument des Fernbleibens als auch als Symptom ihrer Fehlkonstruktion.

Achillesferse Produktivität

Allein die Daten sprechen eine andere Sprache. Seit 1995 ist das kaufkraftbereinigte Schweizer Pro-Kopf-Einkommen relativ zur EU-28 zurückgegangen, sogar zur Eurozone hat die Schweiz ökonomisch (leicht) an Boden verloren. Diese Tatsache passt so gar nicht zum Narrativ einer prosperierenden Schweiz und einer darbenden EU.

In diesem argumentativen Notstand wird der Spiess umgedreht und die Zuwanderung für die schwache Entwicklung der Schweizer Pro-Kopf-Einkommen verantwortlich gemacht. Die Milchbüechli-Rechnung lautet, dass der Kuchen durch immer mehr Köpfe geteilt wird und die Küchenstücke darum immer kleiner werden. Natürlich ist diese Gleichung falsch. Studien der KOF, BAK Basel oder des Staatssekretariats für Wirtschaft und unsere eigenen Analysen zeigen das Gegenteil: Die Zuwanderer haben die Schweizer Arbeitslosenquote nachweislich nicht erhöht, vielmehr haben sie den inländischen Pool an Arbeitskräften ergänzt.

Die Personenfreizügigkeit machte die Schweiz für Firmenzuzüge erst attraktiv und schuf neue Arbeitsplätze für Inländer mit tiefen bis mittleren Qualifikationen. Letztlich entwickelten sich dadurch die Schweizer Einkommen positiv. Die wahre Achillesferse der Schweizer Wirtschaft ist die schwache Entwicklung der Produktivität, also der pro Arbeitsstunde erarbeiteten Wertschöpfung. Unser Wachstum der letzten Jahre beruhte überwiegend darauf, dass wir immer mehr Ressourcen in die Produktion steckten, vor allem Arbeit, aber auch Kapital und Boden.

Wir brauchen den Zugang zum EU-Binnenmarkt

Mit dieser Mengenstrategie werden wir unser Wohlstandsniveau angesichts der nun massiv einsetzenden Alterung der Bevölkerung aber nicht halten können. Die Schweiz steht folglich 2018 an einem Scheideweg. Hier setzt das Weissbuch an und analysiert sechs mögliche Wege der Schweiz für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre. Punkto Wohlstand und Prosperität schneiden die Szenarien höchst unterschiedlich ab. Eines ist klar: Die demografische Alterung ist nur dann ohne spürbare Wohlstandseinbussen zu meistern, wenn es gelingt, die Produktivität der immer rarer werdenden Arbeit zu steigern.

Dass dafür ein möglichst hürdenloser Zugang zum EU-Binnenmarkt nötig ist und nicht der Weg der Abschottung, versteht sich von selbst. Sogar die Briten haben jüngst eingestanden, dass ein Freihandelsabkommen mit der EU analog dem europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen Ceta für sie keine ausreichende Option darstellt.

Doch auch im Innern besteht dringender Handlungsbedarf. Die Schweiz muss eine offene Debatte darüber führen, welche Reformen zu realisieren sind, um den Wohlstand auch im nächsten Jahrzehnt zu sichern. Der Blick zurück in die Vergangenheit reicht alleine nicht.

Dieser Artikel ist in der Basler Zeitung vom 12. Juni 2018 erschienen.