1990 betrug der Anteil der gebundenen Ausgaben knapp einen Drittel des Bundeshaushalts. Keine 30 Jahre später sind die Proportionen auf den Kopf gestellt. 2019 werden die Eidgenössischen Räte in ihrer Paradedisziplin, der Wahrnehmung der Budgethoheit, noch bei knapp 33 Prozent des Bundesbudgets von dannzumal 75 Milliarden Franken eine direkte Gestaltungsmöglichkeit haben. Der Rest wird durch Gesetz und Verordnung in der Zweckbestimmung vorgegeben sein. Die bewusst der Volksvertretung anvertraute Kompetenz zur Steuergeldverwendung, gepaart mit der Möglichkeit zur Reaktion auf kurz- und mittelfristig absehbare Entwicklungen, wird damit ausgehöhlt.
Am meisten zu dieser Entwicklung trägt die soziale Wohlfahrt bei, deren Anteil am Bundeshaushalt bereits heute einen Drittel beträgt. Davon sind nahezu 100 Prozent zweckgebunden – etwa durch Leistungen für die Altersvorsorge, Prämienverbilligungen oder Ergänzungsleistungen. Dasselbe gilt für den Verkehrsbereich mit einer Zweckbindung von gegenwärtig 45 Prozent, die aber gegen 75 Prozent ab 2018 steigen wird. Wesentlichen Handlungsspielraum haben die Eidgenössischen Räte dagegen noch bei der Landwirtschaft (Gesamtbudget für 2015: 3.7 Milliarden) und den weiteren milliardenschweren Budgets der Landesverteidigung oder bei den Beziehungen zum Ausland mit Bindungsgraden zwischen 3 bis 10 Prozent. In der Sommersession konzentrierten sich liberale und konservative Kräfte im Nationalrat vornehmlich auf Kürzungsversuche im Bereich der Entwicklungshilfe, die knapp scheiterten. In anderen bedeutenden Sektoren wird die finanzpolitische Steuerbarkeit etwa durch Mehrjahreskredite oder Fonds-Lösungen zunehmend eingeschränkt. Ohne den Nutzen einer starken Landesverteidigung in Abrede stellen zu wollen, zeigte sich dies exemplarisch in der Reaktion nach der Sistierung des Rüstungsprojekts Bodluv im Umfang von 700 Millionen Franken. Der auf vier Jahre gesprochene Zahlungsrahmen verhinderte, dass die nicht verwendeten Kredite für dringendere Zwecke verwendet werden können.
Die Räte berauben sich mit anderen Worten selbst ihrer finanzpolitischen Flexibilität. Eine Folge dieses eingeengten Handlungsrahmens war der Entscheid des Bundesrates auf die gestiegenen Asylkosten von 400 Millionen Franken. Bisher waren diese Ausgaben normaler Teil des Budgets und der Schuldenbremse unterstellt. Neu sollen sie als «ausserordentliche Ausgaben» geführt werden. Damit wird der Ausgabenplafonds der Schuldenbremse ausgeweitet und ihre disziplinierende Wirkung unterwandert. Ebenso wenig werden wirksame Anstrengungen unternommen, um gebundene Ausgaben und Mehrjahres-Zahlungsrahmen zurückzufahren. Als Resultat drohen ohne Gegenmassnahmen bei den Bundesfinanzen Defizite von bis zu 2 Milliarden Franken pro Jahr.
Echte Sparbemühungen bleiben aus, die helvetischen Stabilitätspfeiler der finanzpolitischen Sittenordnung geraten ins Wanken. Der (noch) bestehende Spielraum verbleibt ungenutzt. So schöpfen die Volksvertreter zum Beispiel ihren finanzpolitischen Spielraum in der Landwirtschaft nicht aus – im Gegenteil. Zwar hat es der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft in Frankreich nicht zum Europameister-Titel gereicht, dafür ist unser Land neuer Subventions-Weltmeister im Agrarbereich. Mittlerweile werden deutlich über 60 Prozent des Schweizer Agrariereinkommens von der öffentlichen Hand durch Transferleistungen finanziert. Zum Vergleich: Der Durchschnitt der Unterstützungsgelder am bäuerlichen Bruttoeinkommen in den uns umgebenden EU-Ländern beträgt knapp 20 Prozent, in Neuseeland und Australien sind es weniger als 5 Prozent. Übrigens: Neuseeland hat nach seiner Neuausrichtung der Landwirtschaftspolitik mit Aufgabe der Marktabschottung und der weitgehenden Streichung der Subventionen einen Produktivitätssprung im Agrarsektor von nahezu 6 Prozent pro Jahr erlebt. In der Schweiz stehen jährlichen Bundessubventionen von 3.7 Milliarden Franken knapp 2.2 Milliarden landwirtschaftliche Wertschöpfung gegenüber – und auch das nur, wenn man den Wert der Agrarproduktion nicht an den tieferen Weltmarktpreisen misst.
Um den drohenden Milliardendefiziten Herr zu werden, ist daher ein Weniger an Ausgabengebundenheit, ein Weniger an Mehrjahres-Kreditrahmen und Fonds-Lösungen sowie ein Weniger an creative accounting zur Umgehung der Schuldenbremse notwendig. Vielmehr gefragt ist die Wiederbelebung der finanzpolitischen Sittenordnung schweizerischer Prägung mit einer strikten Anwendung der Schuldenbremse. Die diskretionäre Finanzpolitik muss ausgeweitet und der finanzielle Spielraum für Ausgabensenkungen wahrgenommen werden. Alle ungebundenen Staatsaktivitäten, bei denen wirksam und rasch Kostenreduktionen durchgeführt werden können und die wenig zur Wertschöpfung und Prosperität unseres Landes beitragen, ist Einhalt zu gebieten. Mit der Abkehr von finanzpolitischen Unsitten würde das Parlament die verlorene Führungsrolle zurückerobern.
Dieser Text ist am 20. Juli 2016 in der NZZ erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.