«Tages-Anzeiger»: Herr Grünenfelder, bei der Präsentation des Städterankings sprachen Sie von einer Malaise bürgerlicher Politik, die für Missstände in urbanen Gebieten verantwortlich sei. Was für eine Malaise?

Peter Grünenfelder: Auch die bestrangierte Stadt Zürich hat noch erheblich liberale Luft nach oben – sie erreicht weniger als zwei Drittel des Maximums. Doch bürgerliche Politikrezepte wie auf dem Land taugen im urbanen Raum weniger. Gewerbepolitik mit Fokus auf Parkplätze politisiert zum Beispiel am Interesse der Bevölkerung vorbei. Die Bevölkerung will nicht entweder Velowege oder Parkplätze, sie will einfach schnell von A nach B kommen. Die Städte haben einen kulturellen und wirtschaftlichen Boom erlebt, viele sind global vernetzt, mit international tätigen Unternehmen und einem breit aufgestellten Bevölkerungsmix, von dem ein bedeutender Anteil kein Stimmrecht hat. Die Städte werden immer wichtiger, schon heute leben 70 Prozent in urbanen Gebieten. Entsprechend sollte sich auch die bürgerliche Stadtpolitik weiterentwickeln.

Wie steht es um die bürgerliche Politik national gesehen?

Die Städte erlebten in den vergangenen 20 Jahren quasi eine Sonderkonjunktur. Sie sind für ihren Erfolg aber oft gar nicht selber verantwortlich, sondern profitierten stark von nationalen Weichenstellungen. Diese Weichenstellungen wurden geprägt von einer bürgerlichen, auf Standortattraktivität ausgerichteten Politik. Beispiele sind die Reform des Binnenmarktes und die Marktzugangsabkommen der Bilateralen I mit der Personenfreizügigkeit. Von der qualifizierten Zuwanderung profitierten wiederum vielfach die Städte. Wie die nationale Politik heute aufgestellt ist? Grosse Reformen haben es offensichtlich schwer, doch sie sind schlicht notwendig. Immer weniger Stimmen wagen, dies offen anzusprechen.

Wer sind die wenigen?

Das Schweizer Unternehmertum, das für Hunderttausende Arbeitsplätze Verantwortung trägt. Aus ganz elementaren Gründen: Die Unternehmen leiden unter der Abgabenlast und der exponentiell wachsenden Vorschriftendichte, und sie sind dringend auf die Unternehmenssteuerreform angewiesen, ebenso auf den Zugang zu ausländischen Märkten. Ein Beispiel: Ich habe kürzlich ein KMU im Kanton Bern besucht, das seine Einkünfte hauptsächlich im EU-Raum erwirtschaftet. Hätten die Schweiz und die EU das Abkommen über technische Handelshemmnisse, das Mutual Recognition Agreement (MRA), nicht aufdatiert, hätte dieser Betrieb heute grösste Schwierigkeiten. Er müsste sich wohl einen neuen Produktionsstandort ausserhalb der Schweiz suchen. Unternehmerinnen und Unternehmer sind diejenigen, welche die Bevölkerung aufrütteln können. Es muss nicht immer der Patron selber sein, das können auch Kadermitarbeiter sein, ein Werkleiter.

Sie ziehen in Ihrem im Mai 2018 publizierten Weissbuch einen EU-Beitritt in Erwägung. Geht der Trend nicht in die andere Richtung? Zur kleineren Einheit, zu mehr Bürgernähe?

Je näher bei den Bürgern, desto besser, das ist auch meine persönliche Überzeugung. Zugleich sind wir Schweizer, wenn wir wirtschaftlich Erfolg haben wollen, auf den Zugang zu den ausländischen Märkten angewiesen. Darum wird eine EU-Mitgliedschaft in einem von unseren Weissbuchszenarien thematisiert. Was, wenn der Handelskrieg mit den drei grossen Blöcken USA, China und EU an Fahrt gewinnt? Wenn wir als exportorientiertes Land den Marktzugang zu unseren wichtigsten Partnern verlieren würden? Ich denke hier vor allem an unsere Nachbarregionen wie Baden-Württemberg. Dieses deutsche Bundesland ist für uns wirtschaftlich wichtiger als China. Das Tirol ist wirtschaftlich gesehen für uns gleich bedeutend wie Kanada.

Baden-Württemberg ist für die Schweiz wirtschaftlich wichtiger als China. Fernsehturm in Stuttgart bei Vollmond. (Wikimedia Commons)

Sie sagen, es gebe in unserer Gesellschaft zu viele Tabus. Sie dürfen doch über alles reden, oder?

Wenn wir solche Szenarien aufzeigen und sagen, was es zur Sicherung des Wohlstands braucht, dann gleicht das einem unerhörten Tabubruch. Der EU-Beitritt ist mit einem Denkverbot belegt. Doch Denkverbote sind fortschrittsfeindlich und schädlich. Ich sage doch nicht, dass wir in die EU müssen. Aber wir müssen langfristig und in Szenarien denken und den Reformstau grundsätzlich überwinden. Wenn wir mit aller Kraft am Status quo festhalten, wird er zum Status minus. Unseren Wohlstand, den wir jetzt noch haben, können wir nur durch Erneuerung erhalten, durch das Erschliessen neuer Geschäftsmöglichkeiten. Nicht durch krampfhaftes Festklammern am Bestehenden.

Die Unternehmen sollen die Bevölkerung aufrütteln – die Parteien können das nicht?

Der Wille zu wirklichen Reformen fehlt. Schauen Sie einmal das aktuelle Legislaturprogramm an. Das ist ein Sammelsurium verschiedener Verwaltungsaktivitäten ohne klare Strategie. Die wichtigen, grossen Themen werden umschifft. Politik müsste einen längerfristigeren Fokus erhalten.

Welche Reformen sind am dringendsten?

Wir haben eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit, aber die künftige Finanzierung der Altersvorsorge lösen wir nicht. Die derzeit geplante Überbrückungsfinanzierung löst die strukturellen Probleme bei der AHV und den Pensionskassen keineswegs. Wichtig ist auch der Zugang zu ausländischen Märkten – auch wenn die Bauernlobby neue Freihandelsabkommen mit Kräften torpediert. Zugleich ist für unsere KMU, aber auch für die international tätigen Unternehmen, die Steuerreform dringend notwendig. Sie hilft, den Standort Schweiz attraktiv zu halten.

Bei der Altersvorsorge – was wäre Ihr Rezept?

Man müsste das Rentenalter automatisch der Lebenserwartung anpassen, wie das schon die Dänen tun. Das wäre die ehrlichste Lösung. Im internationalen Vergleich haben wir bereits heute eine der längsten Rentenbezugsdauern.

Die Gruppe der ausgesteuerten über 55-Jährigen wächst, die gut qualifiziert sind, aber keinen Job mehr finden. Sollen sie noch drei Jahre länger auf die Rente warten?

Bis ins Jahr 2035 wird der Schweizer Arbeitsmarkt ohne Zuwanderung um über eine halbe Million Menschen schrumpfen, aufgrund der demografischen Entwicklung. Es wird überall Personal brauchen, im hoch qualifizierten Bereich, im Dienstleistungsbereich, in der Güterproduktion, auch in der Pflege. Da wird man auf die Arbeitskräfte angewiesen sein, auch auf die älteren.

Glauben Sie, dass das Freihandelsabkommen mit den USA zustande kommt? Die Bauern haben es schon letztes Mal verhindert.

Der Ärger über die Bauernlobby ist enorm, vor allem in jenen wirtschaftlich erfolgreichen, exportorientierten Kreisen, die letztlich den Agrarsektor via Subventionen finanzieren. Wenn die Bauernlobby weiterhin die Erschliessung neuer Märkte via Freihandelsabkommen verhindert, ist der volkswirtschaftliche Schaden auf Dauer immens.

Ob Freihandel mehr Wohlstand bringt, ist umstritten.

Die Globalisierung und damit die internationale Arbeitsteilung haben den Wohlstand weltweit erhöht. Millionen Menschen konnten sich aus der Armut befreien. Doch zugleich stellen wir einen Trend zur Re-Nationalisierung fest, nicht nur in der Schweiz. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf ein verlässliches, internationales Regelwerk angewiesen sind. Ich würde das die vierte Staatsebene nennen, neben unseren drei, Gemeinde, Kantone und Bund.

Sie wollen eine Debatte, um Reformen mehrheitsfähig zu machen. Mögen die Leute noch debattieren? Es gibt ja schon jedes Jahr ein halbes Dutzend Volksinitiativen, die zur Diskussion stehen.

Volksinitiativen sind Impulsgeber und lösen manchmal kontroverse, aber immer wichtige Debatten aus, die ich persönlich mag. Die direkte Demokratie bindet uns Bürgerinnen und Bürger in die Verantwortung mit ein. Das ist ein Teil unserer DNA, das finde ich gut.

Dieses Interview von Claudia Blumer mit Peter Grünenfelder ist am 1. 11. 2018 im «Tages-Anzeiger» erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.