Vanessa Buff: Die Zahl der Studenten nimmt in der Schweiz stetig zu, gleichzeitig fehlen uns die Fachkräfte. Studieren wir die falschen Fächer, Herr Schellenbauer?

Patrik Schellenbauer: Man führt den Fachkräftemangel gern auf Fehlentwicklungen im Bildungssystem zurück, aber die Realität ist, dass die Schweiz allgemein zu wenig Leute hat. Die Fachkräfte fehlen in vielen Bereichen, nicht nur in der Industrie und der ITC, sondern auch im Gesundheitswesen, dem Tourismus, an den Schulen oder in Kaderpositionen. Der Wirtschaftsstandort Schweiz ist sozusagen aus seinem engen demografischen Kostüm herausgewachsen. Dies ist der eigentliche Treiber der Zuwanderung. Der starke Franken wird dieses Problem allerdings für einige Zeit überdecken.

Das heisst, mit dem Bildungssystem können wir den Fachkräftemangel gar nicht beeinflussen?

Allenfalls in der Feinjustierung, wirklich beheben lässt sich der Mangel aber nur, wenn wir entweder weiter Zuwanderung zulassen oder uns mit weniger Wachstum zufrieden geben, indem wir unattraktiver werden. Letzteres würde vor allem den Mittelstand treffen. Politisch sind wir aber auf dem besten Weg dazu, die Verunsicherung in Wirtschaftskreisen ist gross.

Sie sprechen von Feinjustierung. Welche Rolle kommt da der Berufsbildung zu?

Berufsbildung und der akademische Weg sind für mich gleichwertig, den «Königsweg» gibt es nicht. Bei der Berufsmatura liegt aber noch Potenzial brach, die BM-Quote betrug 2013 nur 13,7%. Nicht wenige Betriebe – sogar staatsnahe – ermöglichen ihren Lehrlingen gar keine berufsbegleitende BM, mit der BM 2 nach der Lehre verliert man aber ein Jahr.

Woran liegt das? Können sich die Betriebe die Ausbildung nicht leisten?

Finanziell gesehen lohnt sich die Ausbildung von Lehrlingen für die Betriebe und das ist gut so. Die Kehrseite ist jedoch: ein Lernender, der öfter zur Schule geht, fehlt mehr im Betrieb, er hat eine zusätzliche Belastung zu stemmen und hat dann auch den Kopf einmal wo anders. Viele Betriebe befürchten, dass das auf die Rendite schlägt. Darum muss man sie überzeugen, dass sie letztlich von der Ausbildung ihrer Lehrlinge profitieren. Wenn ein Betrieb gute Lernende will, dann muss er ihnen Perspektiven bieten. Dass man in den 90er-Jahren die Berufsmatura eingeführt hat, halte ich für die wichtigste Bildungsinnovation der letzten 20 Jahre.

Sie haben gesagt, Berufsbildung und akademischer Weg seien für Sie gleichwertig. Tatsächlich entscheiden sich doch aber wohl die meisten Schüler für das Gymnasium statt für eine Lehre – wenn sie beide Möglichkeiten haben.

Das stimmt, aber wegen der strengen Selektion stieg die Maturaquote nur wenig, und das nur wegen dem steigenden Frauenanteil. Aber es findet schon eine Selektion entlang der kognitiven Begabung statt. Meine Idealvorstellung wäre hingegen, dass sich mehr schulisch begabte Jugendliche für einen praktischen Einstieg über die Lehre entscheiden und das theoretische Rüstzeug später erwerben.

Wie steht es denn eigentlich um die Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem?

Völlige Chancengleichheit ist eine Illusion. Wenn Eltern mehr Ressourcen zur Verfügung haben, werden sie ihre Kinder immer mehr fördern, das fängt schon bei den alltäglichen Gesprächen beim Essen an. Kein Schulsystem kann das vollständig auffangen. Immerhin ist aber bei uns die Berufsbildung auf einem sehr hohen Niveau. Wenn man in Frankreich eine Art Lehre macht, ist man hingegen auf dem Abstellgleis, weil alle wissen, man ist der, der es nicht in weiterführende Schulen geschafft hat. Das ist in der Schweiz nicht so – zum Glück.

In der Schweiz gibt es auch nicht so starke qualitative Unterschiede zwischen Privatschulen und öffentlichen Schulen – wie etwa in England.

Wobei man da auch nicht naiv sein sollte: Die Segregation gibt es auch in der Schweiz, nämlich über den Wohnort. Wer seine Kinder in eine gute Schule schicken will, der zieht in eine reiche Gemeinde. Paradoxerweise wird das Gespenst der Segregation immer als Hauptargument gegen mehr Freiheit in der Schulwahl angeführt. Ich bin da genau gegenteiliger Meinung.

Das müssen Sie erklären.

Wahlfreiheit haben heute nur die besser Gestellten, ihnen stehen Wohnortwechsel und Privatschulen offen. Faktisch ist das eine Segregation nach Einkommen. Wenn nun aber etwa eine Familie aus Zürich, die sich Zollikon als Wohnort nicht leisten kann, ihre Kinder dort zur Schule schicken könnte, dann wirkt genau das dieser Trennung weit entgegen.

Und wie würde man entschieden, welche Kinder nach Zollikon dürften? Mit Eignungstests?

In einer Übergangsphase müsste man das noch steuern. Aber längerfristig würde es sich einpendeln: Die weniger guten und entsprechend weniger nachgefragten Schulen müssten sich fragen, was denn die anderen besser machen. Das nennt man Wettbewerb.

Wettbewerb ist im Schweizer Bildungswesen aber gemeinhin nicht gewollt.

In Bildungskreisen ist man in der Tat sehr wettbewerbsfeindlich. Aber ich kenne kein gutes Argument, warum Wettbewerb in der Bildung nicht funktionieren sollte. Mir scheint es sinnvoller, wenn die Schulen mehr Entscheidungsfreiheit erhalten und einen kreativen Wettstreit veranstalten, statt dass alle das machen müssen, was vom Schulamt verordnet wird. Wenn die Zentrale nämlich einen Fehler macht, dann müssen ihn alle machen.

Schaut man sich die Köpfe hinter amerikanischen Firmen wie Google, Amazon oder Facebook an, findet man Schulabbrecher, Menschen, die zu Hause unterrichtet wurden oder auf private Montessori-Schulen gegangen sind. Unser Bildungssystem scheint dagegen sehr auf Konformität ausgelegt. Fehlen uns hier die kreativen Wege?

Eine stark vom Staat geprägte Bildung neigt naturgemäss zu Konformität, weil sie es allen Recht machen muss, der kleinste gemeinsame Nenner ist der Feind der Kreativität und Entdeckung. Dazu kommt: Normierte Berufslehren gibt es in Amerika nicht, gelernt wird «on the job» und wenn man die Firma verlässt, hat man kein anerkanntes Diplom. Die Qualifikation ist dann einfach die Firma, die im Lebenslauf steht.

Dennoch: Kritiker monieren, dass gerade bei Sparübungen immer zuerst die kreativen Fächer, die weichen Fächer, weggespart werden.

Die Frage ist, ob es denn Aufgabe des Staates sein soll, für Kreativität zu sorgen – sofern man diese denn überhaupt lernen kann. Nehmen wir beispielsweise staatliche Beiträge an den Musikunterricht: Tendenziell sind es eher gutverdienende Familien, die ihre Kinder ein Instrument lernen lassen. Da kann man sich schon fragen, warum der Staat das bezahlen soll. Ich tendiere dazu, dass sich die Volksschule vor allem auf die Grundkompetenzen konzentrieren soll. Selbstverständlich müssen aber kreative Unterrichtsformen Platz haben.

Sie hielten in Schaffhausen ein Referat zur Frage, ob man in der Bildung sparen darf. Können Sie diese Frage beantworten?

Eine pauschale Antwort wäre vermessen. Aber die internationale Bildungsforschung kann uns Hinweise geben. So spielen die Klassengrössen, die in Sparrunden heiss diskutiert werden, in den gängigen Bandbreiten keine Rolle für den Bildungserfolg. Entscheidend sind Qualifikation und Motivation der Lehrpersonen sowie die gelebte Autonomie der Schulleitung. So gesehen muss man den Lehrpersonen marktgerechte Löhne zahlen und ihnen Perspektiven bieten. Die Schweizer Lehrerlöhne sind nicht generell zu tief, die starren Lohnsysteme schränken aber die Flexibilität zu sehr ein.

Das Interview erschien am 30. März 2015 in den «Schaffhauser Nachrichten».
Mit freundlicher Genehmigung der «Schaffhauser Nachrichten»