Ende April titelten wir hier «Corona in der Schweiz – eine Bilanz». Aus Schweizer Sicht nicht unangebracht – die erste Infektionswelle war weitestgehend überstanden und eine zweite noch rein modelltheoretischer Natur –, wirkt der Begriff «Bilanz» aus globaler Sicht dagegen rückblickend anmassend: Damals zählte die Welt 3 Millionen Sars-CoV-2-Infizierte, heute sind es weit über 30 Millionen. 200’000 Todesfällen von damals stehen die bald 1 Million von heute gegenüber.
Und doch haben die meisten Überlegungen von damals – unter welchen Szenarien kostet ein Lockdown mehr als er nützt? – weiterhin ihre Gültigkeit, ja: Sie haben sogar an Brisanz gewonnen.
Denn trotz seiner weiten Verbreitung scheint das Virus nicht an Gefährdungspotenzial gewonnen, sondern verloren zu haben. Zu diesem Schluss veranlasst der Vergleich von Fall- und Todeszahlen (vgl. Grafiken):
- In der Schweiz sind die Fallzahlen schon seit drei Monaten wieder am Steigen – zwar langsam, aber kontinuierlich. Seit Anfang Juli verzeichnete sie 19’000 neue bestätigte Infektionen, aber weniger als 100 Todesfälle.
- Noch extremer ist die Veränderung in Frankreich: Die zweite «Welle» hat die erste, gemessen an der Zahl bestätigter Infektionen, schon weit übertroffen. Anfang April brach sie bei gut 4000 Neuansteckungen täglich, derzeit liegt sie schon bei über 10’000.Und trotzdem bewegt sich die Zahl der Todesfälle unverändert nahe der Nulllinie – oder genau gesagt: In den letzten Wochen war ein leichter Anstieg auf 50 tägliche Fälle zu beobachten (Ende März waren es über 1000), allerdings ist es – sogar bei den über 65-Jährigen – bisher nicht möglich, eine neuerliche statistische Übersterblichkeit auszumachen. Ein ähnliches Muster ist auch in Spanien zu beobachten.
- Etwas weniger ausgeprägt ist dieser Trend in den USA. Nach wie vor sterben dort täglich etwa 800 Personen (also 0,00025% der Bevölkerung) an Covid, doch auch hier ist die Case Fatality Rate (CFR), also die Anzahl Todesfälle in Relation zur Anzahl der bestätigten Infektionen[1], deutlich gesunken, und zwar von etwa 7% auf 2%.
- Weltweit ist diese CFR von teilweise über 10% Ende März auf unter 2% (ab Mitte September) gefallen. Schon seit Mai sterben täglich etwa 5000 Personen an Covid (0,00006% der Bevölkerung), während die tägliche Zahl der Infektionen langsam in Richtung 300’000 strebt.
Diese Abnahme der Todesfallrate hat verschiedene Gründe:
- Es wird mehr und anders getestet. Im Frühling konnten sich nur Risikopersonen (Alte, Kranke) testen lassen und folglich als «bestätigt infiziert» gelten. Es ist wenig erstaunlich, dass dies rein statistisch zu sehr hohen Sterblichkeitsquoten (CFR) führte. Inzwischen kann sich jeder testen lassen. Vielfach werden sogar Personen ohne jegliche Symptome getestet. Die Dunkelziffer an Sars-CoV-2-Infektionen dürfte daher heute viel niedriger liegen als im Frühling. Noch dazu entspricht die Teilmenge «getestete Positive» heute viel eher einer zufälligen Stichprobe der Menge «Getestete und ungetestete Positive» als im Frühling.
- Es stecken sich wohl aber auch tatsächlich mehr junge Leute an als im Frühling. Im Frühling vor und während des Lockdowns war die Disziplin gerade unter Jungen erstaunlich gross. Im Sommer wollten diese ein Stück Normalität zurück, weshalb die Infektionen unter jüngeren (und damit kaum Covid-gefährdeten) Personen überproportional zunahmen.
- Im Sommer ist nicht nur das Ansteckungsrisiko geringer (weil wir weniger Zeit in geschlossenen, trockenen Räumen verbringen), sondern die Menschen sind auch schlicht widerstandsfähiger. Ihr Immunsystem funktioniert besser, die Schleimhäute trocknen weniger aus und können daher eine höhere Abwehrwirkung entfalten.
- Bei der Behandlung der Krankheit wurden Fortschritte erzielt. Heute weiss man viel besser, welche Behandlungen und Medikamente den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Und man weiss unterdessen auch, dass man Patienten nur im äussersten Notfall intubieren, also an ein Beatmungsgerät anschliessen sollte, da diese Massnahme per se schon sehr gefährlich ist – besonders für ohnehin mehrfach durch Vorerkrankungen belastete Körper.
- Das Virus mutiert sozusagen mit jedem Durchlauf durch menschliche Körper tendenziell in eher harmlosere Varianten. Viele neue Grippestämme scheinen diese Entwicklung durchgemacht zu haben. Das evolutionäre Ziel eines Virus ist es, sich zu vermehren. Das gelingt ihm besser, wenn es seine Wirte nicht tötet. Extrembeispiel ist die Schweinegrippe von 2009/10. Dieser neue Subtyp des H1N1-Virus kursierte schon ein Jahr später als ganz normale saisonale Grippe, ohne das Label «Schweinegrippe». Es ist also nicht auszuschliessen, dass sich Sars-CoV-2 zunehmend zu einem normalen Grippestamm entwickelt.
Natürlich ist zu hoffen, dass Punkt 4 und vor allem Punkt 5 einen erheblichen Anteil zur Erklärung für die gesunkene CFR besteuern. Anderseits kann man sagen: Wie hoch dieser Anteil ausfällt, ist für das Risikoassessment gar nicht so entscheidend, denn Fakt ist: In einigen Ländern – z.B. in Deutschland, Dänemark oder Frankreich – ist die CFR schon unter 0,5% gefallen. Da auch in diesen Ländern immer noch von einer wesentlichen Dunkelziffer an Infektionen ausgegangen werden kann, lässt sich daraus schliessen, dass die Sterblichkeit bei Infektion (registriert und unregistriert) – die Infection Fatality Rate (IFR) – eher unter 0,3% liegen dürfte. Covid-19 wäre damit noch etwa dreimal gefährlicher als eine normale Grippe.
Fallzahlen sollten nicht über Lockdown entscheiden
Im eingangs erwähnten Blog hatte ich berechnet, dass schon ein zweimonatiger Lockdown (wie wir ihn im Frühling erlebten) dem Einsatz von 3,5 Lockdown-Personenjahren für jedes gerettete Lebensjahr gleichkommt. Diese Rechnung ging jedoch von einem Worst-Case-Szenario bei ausbleibenden Corona-Massnahmen aus: 72’000 Personen sterben. Basis für diese hohe Zahl war die angenommene IFR von 1,2% und eine Ansteckung von 6 Millionen Menschen (ca. 70% der Bevölkerung), bis Massenimmunität erreicht ist. Aus heutiger Sicht sind beide Parameter zu hoch gegriffen:
- Die IFR scheint unterdessen, wie gesagt, eher bei etwa 0,3% zu liegen und würde bei Spitalüberlastungen womöglich etwa 0,5% erreichen.
- Eine Massenimmunität könnte schon bei einem Durchseuchungsgrad von deutlich unter 70% erreicht sein. Die 70% ergeben sich (aufgerundet) auf Grundlage der Basisreproduktionszahl, R0, die für Sars-CoV-2 etwa bei 3 liegen soll. Im Durchschnitt steckt ein Mensch also drei weitere an (kurz erklärt: Damit ausgehend von einem R0 von 3 die effektive Reproduktionszahl R1 auf unter 1 sinkt, darf höchstens noch ein Drittel der Bevölkerung für das Virus empfänglich sein. Was bedeutet: Massenimmunität wäre ab 67% erreicht). Nun ist aber in Wirklichkeit R0 höchst ungleich verteilt.Einige sehr aktive, gesellschaftlich überaus stark eingebundene Menschen weisen ein Ro von weit über 3 (vielleicht sogar über 10) auf, das R0 der grossen Masse liegt dagegen viel tiefer, möglicherweise sogar unter 1. Damit das R0 im Gesamtschnitt unter 1 fällt, reicht es also, wenn jene Personen mit sehr hohem R0 immunisiert sind. Und genau jene sind es, die sich auch schneller anstecken würden, weil sie ja eben gesellschaftlich so aktiv sind. Damit wäre bei einer freien Verbreitung des Virus Massenimmunität möglicherweise schon bei einer Durchseuchung von bloss 20% oder 30% der Bevölkerung erreicht. Randbemerkung: Interessanterweise dürften die Massnahmen zur Eindämmung des Virus den für Massenimmunität benötigten Durchseuchungsgrad erhöhen, denn diese Massnahmen ändern ja vor allem das Verhalten bisher sehr aktiver Personen. Wenn nun also nach langer Zeit mit Vorsichtsmassnahmen eine Durchseuchung von 25% resultiert, dann führt das (nach Aufhebung der Massnahmen) nicht zur gleich starken Reduktion von R, wie wenn derselbe Durchseuchungsgrad nach kurzer Zeit ohne Vorsichtsmassnahmen erreicht worden wäre, denn in letzterem Fall befinden sich unter besagten 25% mit grösserer Wahrscheinlichkeit genau jene Personen, die das Virus stark verbreiten.
Bei einer IFR von 0,5% und Massenimmunität ab 30% Durchseuchung (=2,6 Mio. Personen) würde ein Laisser-Faire-Szenario demnach 13’000 Covid-Tote fordern. Gehen wir optimistisch davon aus, dass es bei entsprechenden Massnahmen gelänge, die heutige Zahl von 2000 Toten nicht mehr weiter anwachsen zu lassen, dann sind damit etwa 70’000 Lebensjahre gerettet. Gelingt das mit dem zweimonatigen Lockdown des vergangenen Frühlings, haben wir 1’440’000 Lockdown-Personenjahre (2 Monate mal 8,64 Mio. Personen) dafür eingesetzt. Das wären dann 20,5 Lockdown-Personenjahre pro gerettetes Lebensjahr – statt der Ende April berechneten 3,5. Mit einem weiteren zweimonatigen Lockdown diesen Winter würde sich das Verhältnis auf 41 zu 1 verdoppeln. Rechnet man die Gesamtzeit ein, die wir, um dieses Ziel zu erreichen, unter einem «Corona-Regime» – welcher Ausprägung auch immer – verbringen müssen, so bedeutet das (falls das Problem im nächsten Sommer durch einen Impfstoff gelöst wird) einen Einsatz von 156 «Corona-Regime»-Personenjahren pro gerettetem Lebensjahr.
Auf Basis dieser Abwägung lässt sich ein hartes Corona-Regime nicht rechtfertigen. Auch hinsichtlich des wirtschaftlichen Schadens bzw. des finanziellen Aufwands schneiden harte Corona-Massnahmen in der Kosten-Nutzen-Betrachtung schlecht ab. Dies zu betonen, ist keineswegs unmoralisch. Ganz im Gegenteil: Es ist moralisch. Das zeigt sich spätestens, sobald man überlegt, was man – global gesehen – mit den vielen Billionen Franken, US-Dollar, Euro etc., die die weltweit ergriffenen Massnahmen an Kosten vs. Verlusten nach sich zogen, alles hätte erreichen können – sei es im Kampf gegen Hunger, Kriege, Gewalt oder Klimaerwärmung.
Verhinderung von Spitalüberlastungen als oberstes Ziel
Das einzige Kriterium, das in der aktuellen Faktenlage noch herangezogen werden sollte, um Corona-Massnahmen zu «kalibrieren», ist die Spitalauslastung. Es steht einem entwickelten Staat nicht gut zu Gesichte, wenn er gewissen kranken Personen, die behandelt werden wollen, diese Behandlung verweigern muss, weil die Kapazitäten dazu nicht ausreichen.
Spitalüberlastungen gilt es daher sozusagen «um jeden Preis» zu verhindern. Von genau diesen Spitalüberlastungen sind wir aber derzeit glücklicherweise sehr weit entfernt. In den vergangenen Wochen fanden im Schnitt täglich etwa je 10 Hospitalisationen statt, zum Höhepunkt der ersten Welle Ende März waren es 150. Gesamthaft sind schweizweit aktuell 170 Personen aufgrund einer Covid-Erkrankung hospitalisiert, auf der Intensivstation liegen 27.
Sagen wir es kurz und bündig: Wir befinden uns derzeit in einer perfekten «Flattening-the-Curve»-Situation: Die Fallzahlen steigen langsam, aber kontrolliert. Die Auslastung der Spitäler ist gering. Das ist genau das Szenario, das sich im Frühling alle mantraartig herbeigewünscht haben. Mit dem damaligen Lockdown hat man dann allerdings die Kurve nicht geglättet, sondern – wohl eher unabsichtlich – regelrecht zerstört. Möglicherweise hat man damit sogar eine kleine Chance verpasst – nämlich das Virus im Sommer, bei gestärktem Immunsystem der Bevölkerung, stärker zirkulieren zu lassen, um doch schon einen Schritt in Richtung Massenimmunität zu gehen.
Nun rücken Herbst und Winter näher. Die Zügel sollten trotzdem lockergelassen werden. Massnahmen wie die generelle Maskenpflicht am Arbeitsplatz (Wien) oder gar im Freien (Paris) schiessen über das Ziel hinaus und beweisen vor allem Aktionismus. Solange sich die Spitalauslastung im grünen Bereich bewegt, ist von weiteren Verschärfungen der Corona-Massnahmen generell abzusehen – auch falls die Zahl der bestätigten Infektionen weiter steigen sollte. Denn diese taugt nicht als handlungsanleitendes Kriterium.
[1] Hier genau genommen bezogen auf einen Zeitabschnitt, nicht kumuliert. Die Todesfälle eines gewissen 7-Tage-Intervalls wurden mit den gemeldeten Infektionen des vorhergehenden 7-Tage-Intervalls verglichen, was einer «adjusted case fatality rate» (aCFR) entspricht.