Das Beständige ist heute das Unvorhersehbare. Das bisweilen ökonomisch Irrationale wird immer mehr zum Standard der internationalen Politik. Zur Lösung der Brexit-Frage erarbeitete die britische Premierministerin am zerstrittenen Kabinett vorbei ein Weissbuch, das ebenso den Rücktritt des für die Brexit-Verhandlungen zuständigen Ministers zur Folge hatte wie die Demission des exzentrischen Aussenministers. Auf Drängen der britischen Wirtschaft zielt das Weissbuch angesichts der unterdurchschnittlichen Wirtschaftsentwicklung darauf ab, den gemeinsamen Binnenmarkt für Waren zu erhalten. Zur Enttäuschung der City of London sieht man aber im Finanzsektor von einem Freihandelsabkommen ab.

Die Welt in Bewegung

Der deutsche Innenminister provoziert derweil eine Regierungskrise, indem er den Migrationsnotstand proklamiert. Dessen Höhepunkt liegt jedoch zwei Jahre zurück. Motto der österreichischen EU-Rats-Präsidentschaft ist «Ein Europa, das schützt». Irgendwie nachvollziehbar, nachdem der europäische Kontinent zwar im Innern die Grenzen für Personen, Waren und Dienstleistungen geöffnet, sich beim Schutz der Aussengrenze aber teilweise unkoordiniert und durch nationale Alleingänge hervorgetan hat. «Schutz» und «Sicherheit» finden entsprechend über 60 Mal Erwähnung im Programm des österreichischen Ratsvorsitzes. Dagegen schaffen es «Wohlstand» und «Brexit» gerade auf je 3 Nennungen, obwohl Letzterer eine der grössten Herausforderungen in der Geschichte der Union darstellt.

Gleichzeitig macht der via Twitter regierende 45. Präsident der USA Ernst mit der «America first»-Strategie. Gemäss seiner eigenen Vorstellung des «fairen Handels» bricht er mit China und der EU einen Handelskrieg vom Zaun, auf Kosten der eigenen Industrie und der einheimischen Konsumenten. Auch Schweizer Unternehmen sind von den US-Strafzöllen betroffen. Der Merkantilismus des 17. Jahrhunderts war nur vermeintlich auf dem Scheiterhaufen der Wirtschaftsgeschichte gelandet. Während die WTO mit ihrem verlässlichen multilateralen Regelwerk, das gerade kleineren Ländern Rechtssicherheit bietet, an Bedeutung verliert, verschiebt sich die Macht immer stärker zugunsten der Handelsblöcke USA, EU und China.

Rückzug ist keine Lösung

Und die Schweiz? Die globale Entwicklung, die verwobener, komplexer und damit zugleich unberechenbarer geworden ist, löst zunehmend Abwehrreflexe aus, obwohl unser Land seinen Wohlstand der offenen Volkswirtschaft verdankt. Die Summe der Importe und Exporte von Waren und Dienstleistungen stieg in den letzten 35 Jahren von 61 Prozent auf über 120 Prozent des BIP. Trotzdem scheint für viele der Rückzug in die geordneten Verhältnisse des Kleinstaates attraktiv. Ausgeblendet wird, dass die Schweiz eine wirtschaftliche Mittelmacht darstellt, weltweit rangierend auf Platz 19. Und verdrängt wird, dass sie dies nicht etwa einem florierenden, dynamischen Binnenmarkt verdankt, sondern der wirtschaftlichen Vernetzung mit Europa und der Welt. Im EU-Index der ökonomischen Integration liegt die Schweiz punkto Binnenmarktverflechtung mit Belgien und Irland an der Spitze, im KOF-Globalisierungsindex belegt sie Rang 5.

1964 wusste die Schweiz noch, wohin sie die Zukunft führen sollte: Neue Autobahn vor Eröffnung der Expo 64. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Die Schweizer Eigenart der zweigeteilten Ökonomie mit einer höchst wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft und einem eher trägen Binnenmarkt ist zwar nicht neu. Zunehmend legen sich aber Interessenvertreter strukturschwacher Branchen quer und behindern damit weitere Integrationsschritte des Schweizer Unternehmertums in globale Märkte. Damit sind neue Wertschöpfungspotenziale deutlich schwerer zu gewinnen. Beispiel Mercosur: Der Abschluss eines neuen Freihandelsabkommens mit den südamerikanischen Ländern harzt, weil die Agrarlobbyisten den Wettbewerb zwischen Schweizer Sennen und südamerikanischen Gauchos fürchten. Die Schweizer Landwirtschaft, die heute noch 0,7 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung generiert, wird zur «national security» verklärt.

Gestritten wird ebenso über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zu unserer mit Abstand wichtigsten Wirtschaftspartnerin, der EU, deren handelspolitisches Gewicht im Jahr 2017 61 Prozent bei den Waren und 49 Prozent bei den Dienstleistungen ausmachte. Insgeheim hoffen viele auf ein Scheitern des europäischen Projekts. Aber die Staatengemeinschaft hat sich immer bewegt, von den Anfängen der Montanunion bis zu den heutigen Strukturen und zu der Entwicklung, die der Brexit-Entscheid zwangsweise auslöst. Baumängel im europäischen Konstrukt wie etwa der Euro sind ebenso wenig zu tabuisieren wie bürokratische Auswüchse. Diese sind aber auch hierzulande abzubauen.

Bürokratische Fehlentwicklungen

Verwundert nimmt man in der derzeit entscheidenden Phase der Verhandlungen zum institutionellen Abkommen aber zur Kenntnis, dass in der Schweiz die gleichen Kreise, die sonst gerne den liberalen Arbeitsmarkt rühmen, nicht bereit sind, bürokratische Fehlentwicklungen der mittlerweile siebenmal verschärften flankierenden Massnahmen offen anzusprechen. Der Vergewerkschaftung des Arbeitsmarktes wird nicht entschieden genug entgegengetreten.

Ein weiteres Ärgernis aus liberaler Sicht, die Staatsgarantien für Kantonalbanken im Bankenland Schweiz, gilt als unantastbar. Auf die marktkonformere europäische Lösung mit dem Verbot von staatlichen Beihilfen einzuschwenken, wurde bisher verpasst. Im Wirrwarr der allerorts hochgezogenen roten Linien droht die Bewegungslosigkeit.

Wer offen über das zukünftige Verhältnis unseres Landes mit der wichtigsten Handelspartnerin reflektieren will, scheint zuerst einen Eid auf die Bundesverfassung ablegen zu müssen, will er nicht als Landesverräter gelten. Überlegungen zu einer weiteren Marktintegration werden kritisch beäugt, Kosten-Nutzen-Analysen abgelehnt, man verweist auf die schweizerische Substanz und beruft sich auf die Einzigartigkeit unseres Landes. Doch der kritische Beobachter stellt die Frage, ob nicht bei Firmenansiedlungen, Deregulierung, politischer Berechenbarkeit und liberaler Gesinnung Zweifel an dieser Substanz aufkommen können. Im Jahr 2017 haben sich gemäss der Volkswirtschaftsdirektorenkonferenz noch 245 Firmen in der Schweiz angesiedelt. Das sind 20 weniger als im Vorjahr oder die Hälfte der 2005 registrierten. Die Schweiz verzeichnete 2017 ein reales Wachstum von 1,1 Prozent – die EU stattliche 2,4 Prozent.

Auch bei anderen Kennzahlen ist unser Land seit den 1990er Jahren relativ zurückgefallen. Gegenüber den OECD-Staaten sank die relative Produktivität seit der Jahrtausendwende um 7 Prozent. Die 1990er waren eine Zeit lähmender Stagnation, und auch die jüngste Vergangenheit (2010–2017) verschaffte den Schweizerinnen und Schweizern nur wenig zusätzlichen Wohlstand – mit Ausnahme der kurzen Frühphase der Bilateralen.

Der Status quo ist keine Option

Die «Insel der Glückseligen» unterliegt einer Selbsttäuschung. Erhalt und Ausbau des Wohlstandsniveaus wurden in den letzten 30 Jahren vor allem durch den Einsatz wachsender Ressourcen in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen erzielt. Doch diese Strategie wird auf Dauer nicht aufgehen, wenn man bedenkt, dass der Arbeitsmarkt (ohne Zuwanderung) bis 2035 um eine halbe Million Menschen schrumpfen wird.

Nur mittels eines deutlich verbesserten Produktivitätswachstums kann das heutige Wohlstandsniveau gehalten werden. Dazu ist der hausgemachte Reformstillstand (Stichworte: kompetitive Unternehmensbesteuerung, Rentenreform, Deregulierung, Abbau der Agrarprotektion) zu überwinden und die liberal-marktwirtschaftliche Rahmenordnung zu stärken. Es ist das Verhältnis zur EU zu klären und der Zugang zu weiteren Märkten zu ermöglichen. Notwendig ist ein demokratischer Diskurs über die Zielkoordinaten.

Die einen priorisieren vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte und ihres Wertekanons die «schweizerische Substanz» und die «Handlungsfreiheit». Andere, wie die Autoren des Weissbuchs von Avenir Suisse, ziehen aufgrund ihrer ökonomischen Motivation offene Märkte und Integration vor, weil sie diese für die Wohlstandssicherung und den Erhalt der sozialen Kohäsion für den geeigneteren Weg halten. Über die optimalen Zielkoordinaten darf gestritten werden, nur soll sich das Land am Schluss auch entscheiden. Der Status quo ist keine zukunftstaugliche Option. Die Schweiz muss eine ehrliche Diskussion über den wirtschaftlichen und politischen Weg führen. Der stolze Blick zurück auf unsere Vergangenheit reicht dazu nicht aus.

Dieser Beitrag ist am 19.7.2018 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.