Die Einkommen von Personen auf der mittleren Qualifikationsstufe haben in den letzten zwanzig Jahren an Terrain verloren. Patrik Schellenbauer, Verantwortlicher für Bildungsfragen bei Avenir Suisse, über Ursachen und mögliche Therapien für das Unbehagen im Mittelstand.

Panorama: Im Buch «Der strapazierte Mittelstand» sagt Avenir Suisse, eine Berufslehre reiche nicht mehr, um sich im Mittelstand zu halten oder aufzusteigen. Wie kommen sie darauf?

Patrik Schellenbauer: Das ist gewiss zugespitzt, und vor allem ist es kein Votum gegen die Berufsbildung. Wir wollen damit sagen, dass die Berufslehre als Einstieg in die Bildungskarriere verstanden werden muss und nicht als Endpunkt. Der Grund ist die Polarisierung der Arbeitsmärkte. Die Nachfrage nach mittleren Qualifikationen geht zurück. Vor allem zugunsten höherer Qualifikationen, interessanterweise aber auch zugunsten der tieferen. Denn die steigende Zahl gut verdienender Leute fragt auch mehr persönliche Dienstleistungen nach. Etwas plakativ gesagt: Den Coiffeur werden Sie nie durch eine Maschine ersetzen können und die reichen Leute gehen mehr zum Coiffeur und geben mehr im Restaurant aus. Ich gehe davon aus, dass die Schweiz in den letzten 10 Jahren stark von dieser Polarisierung betroffen war. Wir konzentrieren uns je länger, je mehr auf die sehr wertschöpfungsintensiven, qualitativ hochwertigen Teile der globalen Produktionsketten. Dadurch verschiebt sich die Qualifikationsnachfrage nach oben.

Die Coiffeusen, die Sie erwähnen, machen in der Schweiz meist eine Berufslehre. Demnach sind nicht alle Absolventinnen und Absolventen von Berufslehren abstiegsgefährdet?

Wie gesagt, die Aussage ist in dieser Form medial zugespitzt. Ein Teil der Lehrberufe profitiert auch von dieser Entwicklung, zum Beispiel der Detailhandel. Zudem ist der Begriff «Abstieg» ein relativer. Die Polarisierungsthese behauptet nicht, dass die Nachfrage nach den mittleren Qualifikationen absolut sinkt, dies ist ein relativer Effekt. All die Unternehmen, die sich hier angesiedelt haben, fragen viele Hochqualifizierte nach, wie die Struktur der Zuwanderung zeigt. Das führt aber gleichzeitig auch zu einer absoluten Mehrnachfrage nach mittleren Qualifikationen. Das ist der Grund, weshalb der Mittelstand in der Schweiz insgesamt nicht unter die Räder gekommen, sondern nur relativ etwas zurückgesetzt worden ist. Aber die Leute haben ein empfindliches Sensorium auch für kleine Veränderungen.

Das Bundesamt für Statistik bestreitet in einer neuen Untersuchung, dass es in der Schweiz eine Polarisierung der Einkommensgruppen gibt.

Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Das Bundesamt für Statistik hat die Haushaltseinkommen untersucht, Avenir Suisse den Arbeitsmarkt und die Löhne. Das relative Zurückbleiben der mittleren Löhne wird auf Stufe Haushaltseinkommen von verschiedenen Effekten überlagert. Am wichtigsten ist, dass die Arbeitsbeteiligung der Frauen zugenommen hat und die Geschlechter-Lohnschere sich etwas verringert hat. Beides wirkte der schlechteren Lohnentwicklung in der Mitte entgegen. Dazu kommt, dass sich auch die Grösse und Zusammensetzung der Haushalte verändert, zum Beispiel durch eine abnehmende Kinderzahl.

Wie ist auf die Polarisierung zu reagieren?

Wir müssen die Flexibilität der Berufsbildungsabsolventen erhöhen. Wir haben dazu Vorschläge gemacht: Despezialisierung der Lehre, das heisst breitere Berufsbilder, höherer Allgemeinbildungsanteil. Das hat uns den Vorwurf eingetragen, wir wollten die Lehre abschaffen. Das ist Unsinn. Das duale Bildungssystem ist sehr wichtig für die Schweiz, aber genau deshalb darf man die Warnsignale nicht übersehen. Wir müssen, ausgehend vom jetzigen Modell, eine Erneuerung in die Wege leiten. Der Spielraum für Reformen ist jedoch dadurch eingeschränkt, dass die Rendite der Ausbildungsbetriebe etwas stark in den Vordergrund gerückt wurde. Man wirbt für die Lehre, indem man sagt, sie sei für die Betriebe ein Geschäft. Ob ein Beruf auf dem Lehrstellenmarkt angeboten wird oder nicht, sollte sich aber nicht primär daran bemessen, ob die Ausbildung sich für den Betrieb schon während der Lehrzeit rechnet, sondern ob die Rendite längerfristig gewährleistet ist. Sonst besteht die Gefahr, dass sich der Lehrstellenmarkt immer weiter vom Arbeitsmarkt entfernt.

Mit einem Tertiärabschluss steht man gemäss Ihren Daten besser da. Sollte die Schweiz eine höhere Tertiärabschlussquote anstreben und wenn ja, wie?

Die Hälfte der Jungen ans Gymnasium und dann an die Universität zu schicken ist sicher keine gute Idee, allein schon wegen der Kosten. Wir haben ausgerechnet, was der Staat für jemanden auslegt, der den akademischen Weg bis zum Master zurücklegt. Es sind im Durchschnitt 350‘000 Franken. Wer den berufsbildenden Weg bis in die Tertiärstufe geht, ist für den Staat 100‘000 Franken billiger. In unserem neusten Buch schlagen wir deshalb die Einführung eines individuellen Bildungskontos vor. Allen Absolventen einer Ausbildung auf der Sekundarstufe Il stünde der gleiche Betrag zur Verfügung. Lehrlinge hätten am Schluss der im Vergleich zum Gymnasium günstigeren Berufslehre noch Mittel übrig, die sie in die höhere Berufsbildung stecken könnten. Ein Teil der heutigen Ungleichbehandlung des berufsbildenden Wegs würde damit ausgeglichen, womit ihn wohl mehr Personen bis auf die Tertiärstufe gehen würden.

Sie fassen in Ihren Daten die gesamte Tertiär-A und -B-Stufe zusammen. Gibt es innerhalb dieser Gruppe keine Unterschiede, z. B. bezüglich Aufstiegsmöglichkeiten?

Die Unterteilung ist eigentlich zu grob. Aber die Daten der Lohnstrukturerhebung lassen keine weitere Differenzierung zu. Von meiner Alltagserfahrung her würde ich aber sagen, dass kurzfristig die Aufstiegsmöglichkeiten mit einer höheren Berufsbildung besser sind als mit einem Universitätsabschluss. Das ist aber auch nicht erstaunlich, denn jemand, der berufsbegleitend den Marketingleiter macht, hat seine Karriere ja schon aufgegleist. Wenn Sie dagegen mit einem Hochschul-Master daherkommen, sind Sie erst mal ein Akademiker ohne berufspraktische Erfahrung. Aber weil die universitären Ausbildungen breiter angelegt sind, kommen die Aufstiegschancen später. Wenn man nach 30 Jahren schaut, hat der Universitätsabsolvent nicht die schlechteren Karten.

Wie würden sie die Aufstiegsmobilität in der Schweiz generell einschätzen?

Es gibt leider wenig Empirie dazu. Die letzten Publikationen sind bald 10 Jahre alt. Aber die zeigen, dass die Mobilität nach oben durchaus spielt, genauso wie jene nach unten. Ich bin überzeugt, dass der dynamische Schweizer Arbeitsmarkt heute viele Chancen zum Aufstieg bereithält, möglicherweise sogar mehr als jemals zuvor. Viele Angehörige des Mittelstandes fühlen sich aber übervorteilt, wenn ihnen der Arbeitgeber einen deutschen Uni-Abgänger vor die Nase setzt. Dabei übersehen sie, dass ihnen das starke Wachstum viele neue Möglichkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten brachte. Die Mobilität funktioniert also noch immer, aber die Wahrnehmung wird durch die starke Zuwanderung dominiert. Der sprichwörtliche Lift nach oben fährt für mittlere Einkommen etwas langsamer als in den 50er-, 60er-Jahren. Aber er ist immer noch in Betrieb, dies ist das Wichtigste und unterscheidet die Schweiz von den meisten andern westlichen Ländern.

Der strapazierte Mittelstand

Avenir Suisse hat im Buch «Der strapazierte Mittelstand» die Situation des Mittelstandes in der Schweiz untersucht und festgestellt, dass die mittleren Löhne in den letzten 20 Jahren zwar gewachsen sind, aber weniger stark als die hohen und tiefen Gehälter. Dahinter sieht Avenir Suisse eine Veränderung der Bildungsprämien, also der «Rendite» von Ausbildungen. Die Bildungsprämien von tertiären Ausbildungen (Tertiär A und B) sind im Vergleich zu Berufslehren als höchstem Abschluss seit 1994 deutlich gestiegen. Gleichzeitig stagnierten die Bildungsprämien von Arbeitnehmern mit einer Berufslehre als höchstem Abschluss gegenüber unqualifizierter Arbeit. Diese Entwicklung führt Avenir Suisse auf die Polarisierung der Job-Qualifikationen zurück: Technologischer Fortschritt und Outsourcing setzen in erster Linie Routine-Jobs mit mittlerem Anforderungsprofil unter Druck. Einfache Tätigkeiten (z. B. persönliche Dienstleistungen) und anspruchsvolle Aufgaben (z. B. Forschung und Entwicklung, Beratung) lassen sich dagegen nicht automatisieren und nur schwer auslagern.

Dieser Artikel erschien im Magazin «Panorama» vom 19.04.2013 
unter dem Titel «Der Lift nach oben fährt langsamer».