Klimanotstand war gestern, jetzt geht es um den «real existierenden Klimanotstand». So gelesen in einer parlamentarischen Motion, die diese Woche im Stadtzürcher Parlament eingereicht wurde. Ob die Unterzeichner bewusst die begriffliche Nähe zu Erich Honecker gesucht haben, sei dahingestellt. Jedenfalls passt der DDR-Vergleich so schlecht nicht, denn auch beim «real existierenden Sozialismus» ging es darum, Anspruch und Wirklichkeit einander gegenüberzustellen. Und wie einst in der DDR machen sich auch in der Klimapolitik zunehmend Abschottungstendenzen breit. Für gewisse Politiker sollen Schweizer Klimaziele nämlich neu gänzlich ohne Massnahmen im Ausland erreicht werden.

Dieser Öko-Nationalismus kommt laut daher, er setzt deutliche Zeichen, und er führt in die Irre. Zum einen fallen so Anspruch und Wirklichkeit in der Klimapolitik komplett auseinander. Zum anderen, und viel wichtiger, führt der bewusste Verzicht von Klimamassnahmen ausserhalb der Schweiz zu einer Ressourcenverschwendung sondergleichen.

COkennt keine Grenzen

Der Klimawandel ist eine globale Herausforderung. Der Ausstoss von COführt zu einem Temperaturanstieg, der mit hohen Kosten verbunden ist. Der Mechanismus hinter dem Klimawandel ist unbestritten, und genauso unbestritten ist, dass COkeine Grenzen kennt. Das Klima freut sich gleichermassen, egal wo eine Tonne Treibhausgase eingespart wird, sei es in Schweden, Australien oder in der Schweiz.

Symbolpolitik führt zur Verschwendung wertvoller Ressourcen im Kampf gegen die Klimaerwärmung. (Matt Artz, unsplash)

Was das Klima freut, freut offenbar nicht mehr alle Klimaschützer. Nur so lässt sich erklären, dass Politiker plötzlich kategorisch auf Massnahmen im Ausland verzichten wollen. So ganz wohl ist ihnen dabei aber nicht. In der eingangs erwähnten Motion werden zwar Zertifikate im Ausland abgelehnt, doch es wird auch die Frage aufgeworfen, inwiefern «eine Stadt ihre CO2-Bilanz nicht auch mit dem direkten Umland koordinieren muss» – ganz im Stil von: Kloten vielleicht, Kiew sicher nicht.

Massnahmen auch im Inland

Natürlich besteht auch im Inland ein klimapolitischer Handlungsbedarf – viele dieser Themen sind seit Jahren bekannt. So verzichten wir beispielsweise noch immer auf eine verursachergerechte Finanzierung der Kosten im Mobilitätsbereich; die externen Kosten des Verkehrs werden in der Schweiz kaum internalisiert. Das muss geändert werden. Geht es dann aber um eine effiziente Reduktion der CO2-Emissionen, darf der Blick aufs grosse Ganze nicht verloren gehen. Der Slogan «Aus der Region, für die Region» gilt vielleicht für ein paar hochpreisige Lebensmittel der Migros, aber nicht für die Klimapolitik.

Das gilt umso mehr, als dass Zürich, Basel oder Lausanne nicht einfach ein paar Güter aus dem Umland beziehen, sondern in globale Personen-, Waren- und Dienstleistungsströme eingebunden sind. Das zeigt sich auch beim Blick auf die Umweltbilanz der Schweiz. Laut Berechnungen des Bundesamtes für Statistik (BFS) fallen rund 60% der Treibhausgasemissionen der Schweizer Endnachfrage im Ausland an. Wenn also Treibhausgase tatsächlich Grenzen kennen würden, dann müsste die Schweiz sogar notgedrungen zwei Drittel ihres Ausstosses mit Massnahmen im Ausland reduzieren – aber das nur am Rande.

Schauen wir auf einen weitaus spannenderen Aspekt der BFS-Zahlen, nämlich, dass die Schweiz im Inland verhältnismässig wenig COausstösst. Das ist unter anderem deshalb der Fall, weil hierzulande in den vergangenen Jahren viel im Bereich Klimaschutz unternommen wurde: Häuser wurden besser isoliert, und in der Produktion wurden alte Maschinen mit neuen, energieeffizienteren ersetzt. Gleichzeitig ist der im Ausland verursachte CO2-Ausstoss der Schweiz auch darum so gross, weil dort teilweise mit veralteter Technologie produziert wird. Diese Diskrepanz ist nun essenziell, will man den Klimaschutz richtig anpacken.

Das Problem effizient angehen

Um das zu sehen, muss man sich das Konzept des Grenznutzens vor Augen führen. Was etwas sperrig und akademisch klingt, ist eigentlich einfach und intuitiv. Gehen wir dafür gedanklich auf eine kurze Reise nach Kiew. Dort steht ein Schulhaus, das noch immer mit altem Dämmmaterial aus sowjetischer Zeit isoliert ist. Im Keller verrichtet eine Ölheizung mit Baujahr 1952 dampfend und rauchend ihren Dienst. Wegen der schlechten Isolation und des ineffizienten Ofens müssen im kalten ukrainischen Winter jeweils Unmengen an Öl verheizt werden, um die Kinder warm zu halten.

Nun zurück in die Schweiz, genauer: nach Zürich Nord. Dort wurde vor zehn Jahren das Schulhaus Leutschenbach bezogen. Sowohl Heizkonzept als auch Isolation sind beim Neubau auf dem modernsten Stand. Das Gebäude wurde denn auch mit dem Minergiestandard ausgezeichnet. Entsprechend ist der CO2-Ausstoss absolut und pro Schulkind um Welten geringer als jener der Schule in Kiew.

Und nun zur Quizfrage: Wo würden Sie 100’000 Franken investieren, um etwas für den Klimaschutz zu tun? Die Antwort ist klar: in Kiew, nicht in Zürich. Schliesslich kann im ukrainischen Schulhaus mit 100’000 Franken die Heizung ersetzt und die Isolation massiv verbessert werden. Die Reduktion beim CO2-Ausstoss wäre signifikant. Beim Schulhaus Leutschenbach könnte man für das Geld höchstens noch kleinere Anpassungen beim Wärmekonzept vornehmen. Ein grosser Effekt auf die Emission von Treibhausgasen bliebe aus.

Dieses Beispiel illustriert den Mechanismus von Klimazertifikaten. Der Grenznutzen einer Klimamassnahme ist in der hochentwickelten Schweiz im Allgemeinen viel geringer als im Ausland. Dahinter stehen simple ökonomische Prinzipien – mit «ökologischem Ablasshandel» hat das nichts zu tun.

Fürs Klima oder für die Ideologie?

Klar darf es bei der Ausgestaltung des Zertifikate-Modells nicht zu Mauscheleien und Doppelzählungen kommen. Doch diese Thematik hat nichts mit dem Konzept der Klimazertifikate zu tun. Teils handelt es sich um eine unbefriedigende Umsetzung, teils geht es schlicht und einfach um Betrug. Beides kommt leider überall vor, wo Menschen am Werk sind. Niemand käme aber wegen einer fehlerhaften Ticket-App oder wegen eines Schwarzfahrers auf die Idee, das Konzept des öffentlichen Verkehrs in Frage zu stellen. Das gleiche gilt bei den Klimazertifikaten, bei denen der Korrekturbedarf längst erkannt wurde und derzeit auch adressiert wird. Wegen der noch bestehenden Probleme bei der Umsetzung das wirksame Instrument gegen den Klimawandel gleich in Bausch und Bogen verwerfen, würde bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Wer dennoch kategorisch auf Zertifikate im Ausland verzichten will, tut dies nicht um des Klimas willen. Vielmehr dürften dabei ideologische Überlegungen im Vordergrund stehen, man will ein Zeichen setzen. Im «real existierenden Klimanotstand» soll die Schweiz isoliert und für sich alleine ihre Ziele erreichen. Dass es am Ende um ein globales Problem geht, und dass mit einem solchen Ansatz wertvolle Ressourcen im Kampf gegen die Klimaerwärmung verschwendet werden, spielt keine Rolle mehr. Diese Entwicklung ist bedenklich. Auch wenn der Klimaschutz derzeit ein hochemotionales Thema ist: Am Ende sollten Resultate wichtiger als Symbole sein.