Noch nie konnte sich der Mittelstand so viel leisten wie heute. Ökonom Patrick Schellenbauer erklärt, weshalb dieser sich trotzdem zurückgesetzt fühlt.
Kari Kälin: Patrik Schellenbauer, wie geht es dem Schweizer Mittelstand?
Patrik Schellenbauer: Es gibt zwei Ebenen. Objektiv geht es dem Mittelstand heute so gut wie noch nie. Trotzdem ist in der Mitte ein grosser Unmut spürbar.
Erklären Sie.
Die Kaufkraft des Mittelstands war noch nie so gross wie heute. In der Schweiz sind die realen Löhne im Gegensatz zu zahlreichen anderen westlichen Ländern in den letzten 15 Jahren im ganzen Lohngefüge gestiegen, auch im Mittelstand. Wer auf der Autobahn von Luzern nach Zürich fährt, sieht einen beeindruckenden Fuhrpark. Es sitzt bestimmt nicht nur die Oberschicht am Steuer all dieser teuren Autos. Wir verreisen mehrmals pro Jahr in die Ferien, was vor 20 Jahren noch keine Selbstverständlichkeit war. Zudem beanspruchen wir pro Kopf so viel Wohnfläche wie noch nie. Zugespitzt könnte man sagen: Wir klagen auf hohem Niveau.
Woher rührt denn das Unbehagen, das Sie im Buch «Der strapazierte Mittelstand» feststellen?
Die wirtschaftliche Position des Mittelstandes hat sich relativ zu Oben und Unten verschlechtert, er fühlt sich zurückgesetzt. Die mittleren Löhne sind zwar in den letzten Jahren gestiegen, aber deutlich weniger als die hohen Löhne und eben auch etwas weniger als die tiefen Löhne. Das führte zu einem Statusverlust, der wahrgenommen wird. Das ist eine der Erklärungen für die Malaise. Dieses Unbehagen wird verstärkt durch viele Medien, die – von ausländischen Erfahrungen beeinflusst – das Bild des darbenden Schweizer Mittelstandes kultivieren.
Geht die Schere zwischen arm und reich auseinander? Wir lesen die ganze Zeit von Managern wie Daniel Vasella, die Millionengehälter kassieren.
Wenn wir nur das oberste Promille der Einkommen betrachten, sind wir bei den Managern angelangt, die als «Abzocker» gelten. Die spielen aber in einer anderen, globalen Liga. Man mag die Vorgänge auf diesem Markt zwar verurteilen, ich würde aber für etwas mehr Gelassenheit plädieren, denn sie sind für den Mittelstand nicht ausschlaggebend. Betrachten wir in der Einkommensverteilung nämlich die untersten und obersten zehn Prozent (anstatt das höchste Promille), sind die Lohnunterschiede in der Schweiz nur unwesentlich grösser geworden. Die Schweizer Stundenlöhne sind gleicher verteilt als im egalitär geltenden Schweden.
Würde es dem Mittelstand etwas nützen, wenn Manager von internationalen Grosskonzernen nicht so viele Millionen einstreichen würden?
Ob ein Spitzenmanager ein paar Millionen Franken mehr oder weniger verdient, hat auf den Lebensstandard des Mittelstandes keinen Einfluss. So ist die Vorstellung, die Medikamente würden billiger, wenn Daniel Vasella weniger verdient hätte, zwar verbreitet, aber falsch. Denn hohe Managergehälter können nicht einfach auf die Medikamentenpreise überwälzt werden, abgesehen davon, dass ihr Anteil an der ganzen Lohnsumme nicht so hoch ist wie man denkt. Kurzum: Vasellas Salär hat keinen Einfluss auf die Lebensqualität des Mittelstandes.
Wie steht der Mittelstand in der Schweiz im Vergleich zum Ausland da?
Die Schweiz ist ein Spezialfall. Sie finden praktisch kein anderes hoch entwickeltes Land, in dem sich der Mittelstand in den letzten 15 Jahren so gut behauptet hat wie in der Schweiz. Zum Beispiel in den USA, in Grossbritannien, aber auch in Italien, Frankreich und teilweise Deutschland hat er an Terrain eingebüsst. Der westliche Mittelstand geriet unter Druck, weil sich mit dem Eintritt von China und Indien in die Weltwirtschaft das Angebot an Arbeitskräften weltweit verdoppelt hat.
Immer wieder hört man, der Mittelstand werde von superreichen Neuzuzügern verdrängt. Stimmt das?
Es gibt in der Schweiz 5‘000 Pauschalbesteuerte, nicht einmal ein Promille der Bevölkerung! Es ist etwa häufig die Rede davon, in der Stadt Zürich werde der Mittelstand an den Rand gedrängt. Sein Anteil in der Stadt ist aber konstant geblieben. An der Goldküste ist er leicht rückläufig, aber nicht in einem dramatischen Ausmass. Im Schweizer Mittelland ist der Mittelstand hingegen gewachsen. Die steuergünstigen Kantone Zug und Schwyz stellen Spezialfälle dar. Aber die Wachstumspolitik wird in diesen beiden Kantonen zunehmend hinterfragt.
Wo liegt das Problem?
Die Zeche zahlt der mobile Mittelstand, denn wer nicht umzieht, ist durch das Mietrecht geschützt. Wenn sich eine Familie wegen Kinderzuwachses eine neue Wohnung suchen muss, kann es sein, dass sie sich das nicht mehr leisten kann oder will.
Fast alle Schweizer Parteien verstehen sich als Anwälte des Mittelstandes. Wie kommt das?
Zunächst: Den Mittelstand als homogene Gruppe gibt es nicht. Es existiert keine gemeinsame Befindlichkeit und Werthaltung in der Mitte. Dass alle Parteien um den Mittelstand buhlen, hat wohl damit zu tun, dass man in der Schweiz eine Abneigung gegen Extreme hat, wie etwa die Abzockerdebatte zeigt. Der Mittelstand, zu dem sich fast alle zählen, entspricht dem Schweizer Selbstbild einer gewissen Bescheidenheit – und wird damit zu einer sehr wirkungsvollen politischen Kategorie.
Weshalb ist für die Mittelschicht der Fahrstuhl nach oben ins Stocken geraten, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?
In der Mittelschicht sind die Löhne in den letzten Jahren weniger stark gewachsen als in der Unter- und der Oberschicht. Der Grund ist, dass die Nachfrage nach mittleren Berufsqualifikationen relativ gesehen gesunken ist. Dahinter steht der technologische Fortschritt, durch den man zwar qualifizierte, aber eben doch Routinetätigkeiten durch Maschinen oder Software ersetzen kann. Im oberen Segment hingegen steigt die Nachfrage nach Arbeitskräften. Auch die einfacheren Qualifikationen werden von den gut Verdienenden vermehrt nachgefragt. Und die Coiffeuse oder den Verkäufer wird man wohl nie mit einer Maschine ersetzen.
Wir haben heute mehr Wohnraum, schönere Autos, können uns mehr Ferien leisten als früher. Weshalb hört man so häufig das Klagelied vom darbenden Mittelstand?
Wegen des Statusverlustes fühlt sich der Mittelstand zurückgesetzt. Zudem bezahlt der Mittelstand einen beträchtlichen Teil des Staates, da in der Schweiz die Progression der Abgaben weniger ausgeprägt ist als in anderen Ländern. Der untere und mittlere Mittelstand schultert eine relativ hohe fiskalische Belastung, profitiert aber kaum von Transferleistungen wie verbilligten Krankenkassenprämien, tiefen Kinderkrippen-Tarifen oder Sozialwohnungen. Durch diese Transfers schliesst die Unterschicht fast zum Mittelstand auf – und dieser kann sich nur noch schwer abgrenzen. Genau diese Abgrenzung nach unten ist für das Selbstverständnis im Mittelstand enorm wichtig.
Wichtiger Hinweis: Avenir Suisse und die Neue Luzerner Zeitung veranstalten am 18. April in Luzern eine Podiumsdiskussion zu diesem Thema. Sie sind herzlich eingeladen!
Dieser Artikel erschien in der Neuen Luzerner Zeitung vom 15.04.2013 unter dem Titel «Wir klagen auf sehr hohem Niveau».