«Influence»: Sie haben Ihr neues Themenmagazin «avenir spezial» dem Kanton Tessin gewidmet und ihn darin als «Potenzial-Kanton» bezeichnet. Auf welche Elemente stützen Sie diese Einschätzung?
Patrik Schellenbauer und Marco Salvi: Das Tessin ist in den Köpfen vieler Deutschschweizer, aber wohl auch vieler Romands, unsere «Riviera», also vor allem ein Ort zum Sonne und Energie tanken. Aber das Tessin bietet viel mehr. Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels birgt politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial und könnte den Südkanton wieder enger an die Schweiz heranführen.
Zu oft wird in der Deutschschweizer Wahrnehmung die wirtschaftliche Kraft des Südkantons auf den Tourismus begrenzt. Sie sprechen von «Überraschungen» in Bezug auf die Wirtschaft. Können Sie dazu konkrete Beispiele geben?
Da gibt es einige: Etwa, dass die Grenzgänger aus Italien mehr eine Ergänzung als eine Konkurrenz für die einheimischen Arbeitnehmer darstellen und immer bessere Qualifikationen aufweisen. Ihre überwiegend positive Wirkung auf die Wirtschaft zeigt sich darin, dass die Arbeitslosenquote im Tessin stark zurückgegangen ist und heute mit 3,1 Prozent quasi den landesweiten Durchschnitt (3 Prozent) erreicht hat. Sehr interessant sind auch der diversifizierte Branchenmix und die wachsende Bedeutung der wertschöpfungsintensiven Branchen, etwa in der Pharmaindustrie oder bei den Unternehmensdienstleistungen. Der positive Nebeneffekt ist, dass das Tessin mit der Verbreiterung der Exportzielländer dadurch seine traditionelle wirtschaftliche Abhängigkeit von Italien reduzieren konnte.
Wie hoch schätzen Sie den Nutzen des Gotthardbasistunnels für das Tessin ein?
Kurzfristig hat sicher das Baugewerbe den grössten Nutzen. In der langen Frist aber profitiert der ganze Kanton. Die kürzeren Reise- und Transportzeiten festigen die Verflechtungen des Tessins mit den umliegenden Regionen. Es winken intensivere Wirtschaftskontakte sowie eine grössere Attraktivität als Tourismusdestination. Auch die Pendlerzeiten der Bevölkerung werden – vor allem nach der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels – sehr viel kürzer. Gleichzeitig sind für die Arbeitgeber die reduzierten Reisezeiten auch eine gewisse Herausforderung, weil die Arbeitnehmer mobiler werden.
Wie kann der Kanton Kapital aus dieser Verkehrsinfrastruktur schlagen?
Die Milliardeninvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur sind eine Riesenchance für das Tessin. Richtig aufgegleist könnte daraus eine Revitalisierungskur für den Wirtschaftsstandort werden: Es braucht neue Angebote im Tourismus; eine Strategie für die «Einkommensquelle Transit», da die neuen Verbindungen das Tessin auch als Logistikstandort stärken. Eine gezielte Schwerpunktsetzung im Bildungsbereich wäre sicher auch hilfreich.
Der Tessiner Stimmbürger äussert sich regelmässig kritisch zu Öffnungsvorschlägen gegenüber Italien und der EU. Ist dieses Verhalten gerechtfertigt?
Alles ist gerechtfertigt, solange die Spielregeln der Demokratie respektiert werden. Prägend war in den vergangenen Jahren der Einfluss der Lega, der zu einem besonders ausgeprägten Regionalismus bei den Tessiner Wählern führte. Rein auf die Fakten bezogen ist eine kritische Beurteilung aber trotzdem angebracht: Institutionelle Abgrenzung und politischer Regionalismus werden das Tessin wirtschaftlich sicher nicht weiterbringen.
In Ihrer Publikation findet man einen Beitrag, der mit «La Suisse latine n’existe pas» betitelt wird. Inwiefern ist das zu verstehen?
Die politökonomische Analyse hat gezeigt, dass Tessiner und Romands in der Vergangenheit grosse Unterschiede im Stimmverhalten zeigten. Besonders markant sind die unterschiedlichen Positionen des Souveräns zu Fragen der aussenpolitischen Öffnung. Aus der «Latinität» lassen sich also noch keine Schlussfolgerungen zur politischen Haltung ableiten. Hinzu kommt, dass das Tessin aus historischen Gründen ein grösseres Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Italien hat als die Westschweizer gegenüber Frankreich.
Wie kann und sollte der südliche Grenzkanton die Chancen, die ihm geboten werden, in der nächsten Zeit packen?
Das Tessin wird als Wirtschaftsstandort gewinnen. Es gibt aber noch einige Hausaufgaben: Die Siedlungsentwicklung sollte sich an den neuen Verkehrsinfrastrukturen ausrichten, um der fortschreitenden Zersiedelung entgegenzuwirken. Zur Erhöhung der eher niedrigen Produktivität ist eine doppelte Strategie gefordert. Durch Steueranreize könnte die unterdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung erhöht werden. Gross ist auch das Potenzial der Branchencluster in den Bereichen ICT und künstliche Intelligenz.
Dieses Interview ist am 26. Januar 2018 auf dem Portal «Influence» der Kommunikationsagentur furrerhugi erschienen.