Seit der Abstimmung vom 9. Februar hört man es noch öfter als vorher, man hört es im Ausland und im Inland, von Schweizern und Ausländern: Die Schweiz schotte sich ab. Richtig an dieser Aussage ist, dass offenbar eine hauchdünne Mehrheit der stimmenden Bürgerinnen und Bürger die Zuwanderung stärker kontrollieren möchte. Abgesehen davon grenzt diese Aussage aber in ihrer pauschalen Verallgemeinerung an Unsinn und an Verdrehung der Tatsachen.

10-mal so viel wie Frankreich

Das gilt vor allem, wenn die Offenheit der Schweiz gegenüber Zuwanderung mit der Realität in den meisten europäischen Ländern, zumal den Nachbarländern, verglichen wird. Unsere Grafik des Monats versucht das ins Bild zu setzen. Die blauen Flächen und die dazugehörenden Zahlen zeigen, wie viele Zuwanderer die betreffenden Staaten absolut und in Relation zur Bevölkerung jährlich netto zusätzlich aufnehmen müssten, wenn sie proportional eine gleiche Nettozuwanderung wie die Schweiz aufweisen würden. Diese hat seit dem Inkrafttreten der vollen Personenfreizügigkeit (2007) jährlich eine Nettozuwanderung von rund 80’000 Menschen verzeichnet.

In Deutschland wären dies Jahr für Jahr netto und aufgerundet 700’000 Zuwanderer, in Frankreich 600’000 und selbst in Italien, das dank Lampedusa traurige Berühmtheit erlangt hat, immer noch gegen 200’000. Man kann es auch weniger hypothetisch ausdrücken: Das bevölkerungs- und flächenmässig fast zehnmal so grosse Deutschland wies zwischen 2007 und 2012 netto nur gut 10’000 Einwanderer pro Jahr mehr auf als die kleine Schweiz; Frankreichs Nettozuwanderung betrug im gleichen Zeitraum 0,07%, also weniger als einen Zehntel des Vergleichswerts für die Schweiz (und selbst absolut weniger als zwei Drittel der schweizerischen Zahlen). In Österreich machte die absolute Zuwanderung sogar nur einen Drittel der schweizerischen aus. Diese Relationen gelten wohlgemerkt alle nicht in einem einzelnen Jahr, sondern über viele Jahre hinweg.

Zuwanderung

Und weil in der Schweiz im Umfeld der Abstimmung viel von Dichtestress die Rede war (als Ausdruck von allem möglichen verständlichen und weniger verständlichen Unbehagen), sei daran erinnert, dass Frankreich und Österreich mit markant kleineren Zuwanderungszahlen im einen Fall flächenmässig etwa 16-mal, im anderen Fall immerhin doppelt so gross sind wie die Schweiz.

Kein Grund für Entrüstung

Auch im grösseren europäischen Vergleich ragt die Schweiz mit ihrer Offenheit ziemlich heraus. So liegt die Nettozuwanderung in Europa im Durchschnitt all jener Länder, die überhaupt eine Nettozuwanderung aufweisen, bei 0,4% und somit bei weniger als der Hälfte der schweizerischen Vergleichszahl. Auf eine ähnliche hohe Zahl der Zuwanderung wie die Schweiz kommen zwischen 2007 und 2012 nur noch Zypern und Norwegen sowie – mit 1,5% deutlich höher – Luxemburg. Als Folge der seit Jahrzehnten starken Zuwanderung sind gegen 30% der schweizerischen Wohnbevölkerung im Ausland geboren, und über ein Drittel hat ausländische Väter und/oder Mütter, dies im deutlichen Gegensatz zu Norwegen, wo die Zuwanderung erst im Gefolge der Erdölbonanza eingesetzt hat und nur etwa 14% der Wohnbevölkerung aus dem Ausland stammen.

Man kann natürlich viel gegen solche Zahlenspielereien einwenden, nicht zuletzt, dass kleine Länder fast naturgemäss relativ zur Grösse immer offener sind als grosse, nicht nur hinsichtlich der Migration. Das erklärt die besonders hohen Werte für Luxemburg oder etwa auch für Liechtenstein. Aber die Unterschiede sind zum Teil so krass, dass sie mit solchen Unschärfen allein nicht begründet werden können. Die Schweiz ist tatsächlich eines der weitaus offensten Länder Europas – und sie bliebe es selbst dann, wenn ihre Zuwanderung deutlich zurückginge. Für die moralische Entrüstung, die zahlreiche Medien und Politiker im In- und Ausland nach dem 9. Februar an den Tag gelegt haben, besteht also kein Grund.

Schnitt ins eigene Fleisch?

Auf einem anderen Blatt steht die Frage, wie sinnvoll jenseits aller Moral und auch jenseits der unvermeidlichen Spannungen mit der EU die Bemühungen um eine Dämpfung der Zuwanderung sind. Jede einfache Antwort auf diese Frage wäre wohl zu einfach. Man sollte aber zwei Dinge nicht vergessen: Zum einen war und ist ein wesentlicher Treiber einer starken Zuwanderung die relativ zum Umfeld besonders gute wirtschaftliche Lage eines Landes. Das ist in Norwegen nicht anders als in der Schweiz. Wer unattraktiv ist, muss sich die Frage der Zuwanderungskontrolle gar nicht stellen. Erfolg aber macht attraktiv; er zieht ausländische Arbeitskräfte an.

Im Falle der Schweiz kommt dazu, dass sie von einem Arbeitskräftereservoir von 150 Mio. Menschen im erwerbsfähigen Alter umgeben ist, deren Muttersprache eine der schweizerischen Landessprachen ist. Zum anderen hat der Erfolg, das Wirtschaftswunder Schweiz, seit den Anfängen der Industrialisierung viel mit Zuwanderung zu tun, nicht nur von Unternehmensgründern wie Heinrich Nestlé aus Frankfurt oder Walter Boveri aus Bamberg, sondern ebenso von Erfindern, Verkäufern und einfachen «Büezern». Und diese Zuwanderung hat trotz einigem Auf und Ab nie wirklich aufgehört. Das wäre der Diskurs, der in der Schweiz zu führen wäre: wie sehr man sich mit einer zu restriktiven Einwanderungspolitik ins eigene Fleisch schneidet. Für moralische Entrüstung zumal der Nachbarländer der Schweiz gibt es gemäss dem Bibelwort im Titel kaum Anlass.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. April 2014.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.