Europa will weg von russischem Öl und Gas. Aber nicht nur bei diesen Energieträgern besteht eine über Jahrzehnte gewachsene Abhängigkeit, die nach wie vor die russische Kriegskasse füllt. Auch die Kernenergie ist betroffen – und das nicht zu knapp. 2021 überwiesen die EU-Staaten allein für Rohuranimporte rund 210 Millionen Euro nach Russland. Tatsächlich hat die EU den Nuklearsektor von ihren Sanktionen ausgenommen. Zwar forderte Deutschland für das 11. Sanktionspaket einen Stopp der Uranimporte aus Russland, biss damit aber bei anderen Mitgliedstaaten auf Granit. Um die Gründe dafür zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die einzelnen Schritte bei der Herstellung von Kernbrennstäben.

Abbau, Umwandlung und Anreicherung

Uranabbau ist auf mehreren Kontinenten möglich und wird dementsprechend in einer Vielzahl von Staaten betrieben. Russland produziert nur geringe Mengen, die durch Kapazitätserweiterungen in anderen Ländern ersetzt werden könnten. Ein Blick auf die Landkarte verrät jedoch, dass vermutlich ein Grossteil des Urans vom grössten Produzenten Kasachstan durch Russland nach Europa transportiert werden muss. Es gibt daher Bestrebungen, in Zukunft mehr Uran aus Kasachstan über das Kaspische Meer zu exportieren.

Etwas anders stellt sich die Situation bei der Uranumwandlung dar, einem Prozess, bei dem Natururan in Uranhexafluorid für die Weiterverarbeitung umgewandelt wird. Eine Tochtergesellschaft des russischen Staatskonzerns Rosatom ist für mehr als ein Drittel der weltweiten Uranumwandlung verantwortlich, wobei China, Frankreich und Kanada ihre Kapazitäten nicht annähernd ausschöpfen.

Noch etwas grösser ist die Abhängigkeit bei der Urananreicherung, bei welcher der Anteil des spaltbaren Isotops Uran-235 erhöht wird. Hier kontrolliert Russland fast die Hälfte der Kapazitäten. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die europäischen Unternehmen ihre Anreicherungskapazitäten durch den Nichtersatz von Zentrifugen kontinuierlich reduziert haben. Es ist daher davon auszugehen, dass ein Teil der weltweiten Nachfrage nicht gedeckt werden könnte, wenn angereichertes Material aus Russland sanktioniert würde. Aufgrund von Puffervorräten wäre die Stromerzeugung in diesem Fall erst mittelfristig betroffen.

Osteuropa steht auf der Bremse

Viel entscheidender für die Ausnahme des russischen Nuklearsektors von den Sanktionen ist jedoch der letzte Schritt des hier sehr grob skizzierten vierteiligen Produktionsprozesses: die Brennstofffertigung. Bulgarien, Tschechien, Finnland, Ungarn und die Slowakei sind zur Sicherung ihrer Stromversorgung auf Druckwasserreaktoren russischer Bauart angewiesen, die wiederum nur mit speziellen Brennelementen einer Rosatom-Tochter betrieben werden können. In der Slowakei, Finnland und Ungarn stiegen die entsprechenden Importe 2022 im Vergleich zum Vorjahr sogar an. Auch weitere EU-Staaten wie Frankreich beziehen Brennstoffe und Dienstleistungen von Rosatom.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Sanktionen in diesem Bereich kurz- bis mittelfristig nahezu ausgeschlossen. Mit Ausnahme Ungarns sind die genannten Staaten zwar bemüht, von russischen Brennstoffen wegzukommen. Es dürfte aber Jahre dauern, bis die Abhängigkeit über alle Produktionsschritte entsprechend reduziert ist. Bis dahin bleibt nur die Möglichkeit, einzeln involvierte Personen, Transportwege oder Rohuran auf die Sanktionsliste zu setzen. Für die Schweiz ist es wichtig, diese Entwicklungen genau zu verfolgen, da auch sie die Sanktionen wohl übernehmen müsste und auch inländische Kernkraftwerke teilweise mit Uran aus Russland betrieben werden. Die Abhängigkeit sollte zumindest nicht weiter ausgebaut werden.

Mehr Diversität

Es geht in diesem Blogbeitrag nicht darum, sich für oder gegen einen Energieträger bzw. eine Technologie zu positionieren. Ganz ohne Abhängigkeiten geht es in kaum einem Bereich (vgl. z.B. Blog Konzentration kritischer Mineralien). Letztlich ist auch die Antwort, einfach auf Kernkraft zu verzichten, zu simpel, denn auch das geht nicht von heute auf morgen. Eine Mehrheit der EU-Staaten setzt gar explizit auf die Kernkraft, um die Klimaziele zu erreichen. Genauso wie mit Erdgas hat sich Russland mittels Kernenergie international eine strategische Position aufgebaut, die auch politisch genutzt werden kann. Ein weiteres Beispiel dafür sind sogenannte BOO-Reaktoren (Build, Own, Operate), bei denen Rosatom gleichzeitig Finanzierung, Bau und Betrieb übernimmt. Dazu gehört auch das vor kurzem in Betrieb genommene erste Kernkraftwerk in der Türkei. Für Staaten, die neu in die Kernenergie einsteigen wollen, kann das Angebot sehr attraktiv sein, birgt aber auch Gefahren. Das beste Gegenmittel gegen zu einseitige Abhängigkeiten ist Diversifizierung – zwischen, aber auch innerhalb der Energieträger.