Das demographische Ausscheiden der Babyboomer lässt sich nicht länger verdrängen: Die Todesanzeigen von Zeitgenossen und aus dem Bekanntenkreis werden zahlreicher. Und sie gehen näher. Von einem Zapfenstreich der Babyboomer allerdings kann keine Rede sein. Der beginnende «Schichtwechsel» im demographischen Gefüge zeichnet sich nämlich vor allem dadurch aus, dass der Abschied meiner Generation ohne erkennbare generationale Manifestation oder Stabübergabe erfolgt – ein Novum, wenn man die vergangenen Jahrzehnte betrachtet. Man könnte sagen: Weder die Abtretenden noch die Nachrückenden sagen einander «Adieu». Warum nicht? Für das Fehlen der Verabschiedung lassen sich drei Umstände anführen.
Niemand wird verdrängt
Der erste ergibt sich aus den neuen demografischen Verhältnissen selbst: Die Umkehrung der Jahrgangspyramide als Folge des Geburtenrückgangs und der Zunahme der Lebenserwartung (in dieser Reihenfolge) bedeutet, dass die nachrückenden Jüngeren nun in der Minderheit sind. Die quantitative Verschiebung wird von der Partybetriebsamkeit der alterslosen Spassgesellschaft zwar überdeckt, aber das jugendliche Rauschen ändert nichts daran, dass die ankommende Minderheit von der Mehrheit der Amts- und Rollenträger in Wirtschaft, Gesellschaft und sogar Politik aufgesogen und kooptiert wird. Das Gejammer über den Mangel an Auszubildenden, der immer härtere Wettbewerb um Fachhochschulstudierende und der aktuelle Start-up-Kult illustrieren die generationale Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage.
Die «Neuen» verdrängen strukturell niemanden. Die Besorgnis über Altersarbeitslosigkeit und eingetrübte Perspektiven für die Ü50 entzündet sich denn auch mehr am beschleunigten Strukturwandel und der fortschreitenden Internationalisierung der Wirtschaft als an einer Konkurrenz durch die Jüngeren. Im schweizerischen Wohlfahrts- und Bildungsstaat ist zudem die Existenzgründung vom Erben bzw. «in die Fussstapfen treten» fast völlig abgekoppelt. Vererbt wird bei uns quasi als luxuriöser lebenszyklusmässiger Akt zwischen jüngeren und etwas älteren Pensionären.
Die demographische Ironie besteht nun darin, dass parallel dazu die staatliche Umverteilung zulasten der Nach-Babyboomer-Generation massiv zugenommen hat. Von einigen eher peinlichen Schülerprotesten wegen angeblicher Kürzung von Bildungsausgaben abgesehen ist ein politischer Generationenkonflikt nicht auszumachen. In den Analysen zu den Präsidentenwahlen in den USA, zur Brexit-Abstimmung und zu den Wahlen in Frankreich zeigen sich zwar deutliche Korrelationen zwischen Alter und populistischen und/oder nationalistischen Tendenzen. Aber die Überlagerung dieser Beziehung mit dem Bildungsgrad und dem ökonomischen Schicksal des Wohnorts bzw. bestimmter Berufsgattungen lässt eine klare Generationeninterpretation kaum zu.
Ewige Jugend
Vor einigen Wochen befragte Roger Schawinski (70+) den Skiakrobaten Art Furrer (80+), wie es letzterer schaffe, immer noch auf Berge zu klettern bzw. von diesen hinunterzubrettern – und wenn Art Furrer nicht mehr so hervorragend in Form wäre, hätte ihm die SRG sicher ein Plätzchen in der Sendung von Kurt Aeschbacher (fast 70) besorgt…
Für den Kulturphilosophen Robert Pogue Harrison («Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns») ist, zweitens, der hiermit wunderbar illustrierte Jugendlichkeitskult eine tiefgreifende Folge der Jugendsubkultur in den 1960er Jahren, also des Aufstiegs der Babyboomer. Zum ersten Mal in der Geschichte hätten damals die Alten begonnen, die Jungen zu imitieren, und nicht umgekehrt. Seither habe – der demographischen Entwicklung zum Trotz – ein massiver gesellschaftlicher Verjüngungsprozess stattgefunden. Oder prägnanter: die ständige Erneuerbarkeit – die Innovation! – hat die Weisheit als Ideal abgelöst und das Älterwerden unattraktiv gemacht.
Die scheinbar nicht alternden Rolling Stones sind Ikonen dieser Entwicklung in der populären Kultur, die Norm der Jugendlichkeit gilt unter dem Motto «never retire» aber inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen – im Privaten vielleicht noch stärker als in der Wirtschaft. Dort wurden mit der kulturellen Machtübernahme durch die Babyboomer Rücktrittsregeln gegen das damalige «Establishment» institutionalisiert, die sich nun auch gegen allzu beharrliche Babyboomer wenden. Interessanterweise wird gerade im Silicon Valley, im innersten Zentrum der Jugendlichkeitskultur, die Anti-Aging-Forschung vorangetrieben und über die technischen Voraussetzungen für die Unsterblichkeit nachgedacht.
Absage ans Erwachsenwerden
Der grosse Generationenzapfenstreich bleibt, drittens, nicht nur wegen des ewigen Jugendlichkeitsanspruchs der Babyboomer aus. Ihnen stehen vielmehr kommende Generationen gegenüber, die nicht altern und schon gar nicht erwachsen werden wollen. Während die Boomer die Bühne nicht verlassen, sehen die Nachgeborenen keinen Anlass, sie demonstrativ oder auch nur symbolisch zu betreten. Die endlose Ausdehnung der Postadoleszenz ist von Exponenten der verschiedenen Kohorten nach ’68 literarisch-kritisch beschrieben worden. «Warum wir nicht erwachsen werden» heisst der Untertitel einer selbstironischen Zeitgeistanalyse, deren Methode der Autor Sascha Lehnartz selbst als «kabarettistischen Essayismus» bezeichnet.
Schuld am generationalen Scheitern ist bei ihm – wie immer in deutschen Landen – die Globalisierung, die so viel Flexibilität, Dynamik und Mobilität verlangt, dass die Kräfte zum Erwachsenwerden nicht mehr ausreichen. Begriffsprägend war Florian Illies mit seinen beiden Büchern über die «Generation Golf», den jüngeren Teil der Generation X, d.h. die Jahrgänge von etwa 1965 bis 1980. Diese wurden in soziologischen Studien aufgrund ihres geringen Vertrauens in Institutionen, insbesondere in den Staat und die Parteien, meist als private, wenig kollektive Subkultur ausserhalb der politischen Strukturen verortet.
2003, also nach dem Platzen der Dotcom-Blase, aber noch vor der grossen Finanz- und Wirtschaftskrise, konstatiert Illies in einem NZZ-Interview, dass die «Realitäten des Lebens» den Ästhetikwettbewerb der coolen Generation Golf obsolet machen würden. Aber trotz solcher Einsichten bleibt der Befund, dass die Nachfolger der Babyboomer aus strukturellen und kulturellen Gründen das Erwachsenwerden zu verschieben oder abzumildern trachten: Der Anteil der unverheirateten Erwachsenen, die im Haushalt der Eltern leben, hat als Folge der Jugendarbeitslosigkeit und der Verbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in diesen Generationen deutlich zugenommen, ebenso das Durchschnittsalter der Frauen bei der ersten Geburt. Dass Mercedes in einer Kampagne mit fünf aufwendigen Kurzfilmen gerade den Digital Natives nichts weniger als das Erwachsenwerden schmackhaft zu machen versucht (Start a family, Settle down etc.), deutet nicht darauf hin, dass die Zeit der chronisch Jugendlichen zu Ende wäre.
Vom Ende der Leitkulturen…
Ob die Daueradoleszenz auch die Millennials prägen wird, muss offenbleiben. Die Jahrgänge 1980 bis 1999 bewegen sich kulturell-symbolisch ohnehin in einem neuen Raum, der durch soziale Netzwerke und neue Kommunikationsformen definiert wird – und wenig Schnittstellen mit der vordigitalen Welt aufweist. Die digitale Transformation erscheint so sehr als Zeitenwende, dass es zwar ein Vorher und Nachher gibt, dass aber diese Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur neuen digitalen Kultur nicht zwingend generationell interpretiert werden kann. Alt und Jung erscheinen vor der digitalen Revolution gleich.
Vor dem Hintergrund dieser grossen Weltveränderung müsste vielleicht das einleitend postulierte Fehlen einer generationellen Ablösung als falsche Wahrnehmung bzw. «Messfehler» eines alternden Kommentators eingestuft werden. Die Verlagerung des kulturellen Geschehens, ja der sozialen Interaktion überhaupt, in die sozialen Netzwerke mit ihren isolierten Inseln, bedeutet, dass ein übergreifender Wertekanon, eine Leitkultur, die von einer Generation geprägt und getragen und verteidigt wird, nicht mehr existiert, nicht mehr existieren kann. Hinzu kommt der Unwille (oder das Unvermögen) der Digital Natives, sich auf eine nicht medial vermittelte Form der Umgebung und der Kommunikation einzulassen. Damit kann eine generationelle Kultur auch nicht mehr angegriffen oder hinterfragt werden. Die politischen Institutionen erschienen dann als letzte Bastion universell geltender Normen, die Produkte bzw. Entscheidungen dieser Instanzen wären aber für die neuen Generationen zunehmend irrelevant.
…zur Rückkehr des Politischen?
Wenn sich in der von den Generationschronisten skizzierten Gesellschaft nur noch jüngere und ältere «Jugendliche» gegenüberstehen, verschwindet mit der Altersdifferenzierung auch der Generationenkonflikt, die Abgrenzung und Rebellion der demographisch Nachrückenden. Dieser Konflikt war in der Geschichte Bedingung für das Erwachsenwerden, für die Übernahme der Positionen der Alten und für deren oft aktive Verabschiedung – ein eminent politischer Vorgang. Die erwähnte Selbstkritik der Generation Golf und ihrer Nachfolger bis zu den dezidiert coolen Hipstern thematisierte – meist in ironischer Form – die politische Abstinenz und die Distanzierung von jeder Idee von Weltverbesserung. Die Frage ist nun, ob die mehrheitlich von den Alten getragenen populistischen und autoritären Strömungen eine Rückkehr des politischen Generationenkonflikts bewirken könnten.
Den nostalgischen Zulauf von Studierenden zu alten linken Gurus wie Šišek oder Badiou (oder sogar Sanders, Mélenchon, Wagenknecht & Co.!) als generationalen Protest zu taxieren, fällt schwer – auch wenn man es angesichts des allgemeinen Verlustes an Geschichtsbewusstsein nicht ausschliessen kann. Aber wie steht es um neue, spontane jugendliche Bewegungen, die ausserhalb etablierter Parteien und Institutionen entstehen? Die jungen Brexit-Gegner waren zu wenig organisiert, um dem nationalistischen Druck zu widerstehen. Es wäre Frankreich zu gönnen, wenn dort eine junge liberale Bewegung – «Libéro en marche» – den alten Kräften wirklich «Bye-bye» zurufen würde.
Die Generation der Baby-Boomer geht in Rente. Dies wird vielfältige Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft in der Schweiz haben. In einer Serie unter Projektleitung von Daniel Müller-Jentsch und in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift «Schweizer Monat» veröffentlichen wir in den Sommerwochen jeden Montag einen Beitrag zum Thema.