Von den 44 Reformanstössen in der neusten Avenir-Suisse-Publikation («Ideen für die Schweiz») bewegt der allerletzte die Gemüter wohl am meisten. Es ist ein Vorschlag für übermorgen, oder noch eher für den Tag danach. Wir regen darin an, die allgemeine Wehrpflicht durch eine allgemeine Dienstpflicht zu ersetzen, und zwar für alle, das heisst auch für Frauen und niedergelassene Ausländer. Wahlweise kann der Dienst in der Armee, dem Bevölkerungsschutz oder in einer zivilen Tätigkeit geleistet werden. In der Presse wurde diese Idee vereinzelt in die Nähe zur Initiative der «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA)» gerückt, welche vor Jahresfrist eingereicht wurde. Dieser Vorstoss verlangt die ersatzlose Abschaffung der Wehrpflicht.

«Niemand kann verpflichtet werden, Militärdienst zu leisten.» Diese Formulierung des GSoA-Initiativtextes für eine Änderung von Artikel 59 der Bundesverfassung lässt gewiss Raum für eine Freiwilligenmiliz. Sie bringt das GSoA-Anliegen damit in scheinbare Verwandtschaft mit unserem Vorschlag eines Bürgerdienstes für alle. Die konkrete Machbarkeit einer reinen Freiwilligenmiliz für die Armee ist indessen umstritten. Die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass die Anwerbung von genügend qualifizierten Freiwilligen nicht unmöglich, aber doch sehr anspruchsvoll ist. In der Schweiz dürfte es noch schwieriger sein, genügend brauchbare und freiwillige Milizangehörige zu gewinnen, denn der hiesige Arbeitsmarkt bietet jungen Menschen viel mehr Chancen und höhere Löhne als im umliegenden Ausland. Entsprechend werden stärkere Anreize nötig sein, um die benötigten Bestände der Armee zu sichern. Einiges spricht darum dafür, dass die von der GSoA geforderte ersatzlose Abschaffung der Wehrpflicht nur mit dem faktischen Übergang zu einem Berufsheer aufgefangen werden könnte, allenfalls ergänzt um einige Milizverbände. Dafür dürfte es in der Schweiz aber keine Mehrheit geben. Nicht von ungefähr lässt die GSoA offen, wie die Armee im Falle einer Annahme ihres Begehrens zu organisieren wäre. Denn schliesslich ist die Armeeabschaffung noch immer das eigentliche Fernziel, das nun über den taktischen Umweg der Abschaffung der Wehrpflicht anvisiert wird.

Doch auch wenn das GSoA-Anliegen (voraussichtlich) scheitern wird, sind die Fragen um die Ausgestaltung der Wehrpflicht keineswegs vom Tisch. Mit Ausnahme Österreichs und der Schweiz haben alle zentraleuropäischen Länder die Wehrpflicht abgeschafft oder ausgesetzt. In Nordeuropa gilt die Wehrpflicht hingegen noch immer in Finnland und Norwegen, was mit den historischen Erfahrungen dieser Länder respektive ihrer geostrategischen Lage (Grenze zu Russland) zusammenhängt. Dies zeigt, dass die Wehrpflichtdebatte in der Schweiz nicht ausschliesslich sicherheitspolitisch motiviert ist. Vielmehr kreist sie ebenso um die Wehrtradition und das Milizprinzip, das explizit in der Bundesverfassung verankert ist (Art. 58 Abs. 1 BV). Tatsächlich ist das Schweizer Wehrmodell europaweit ziemlich einzigartig. Nach einer relativ kurzen Grundausbildung leisten die Armeeangehörigen über mehrere Jahre verteilt ihren Dienst in Wiederholungskursen. Sowohl in Spezialistenfunktionen als auch im Offizierskorps ist der Anteil von Berufssoldaten zwar zunehmend, aber noch immer auf tiefem Niveau.

Armeeangehörige Schweiz Trotzdem mehren sich auch in der Schweiz die Risse im Milizprinzip. Die Beteiligung an zivilen Miliztätigkeiten (z.B. in Behörden, Vereinen) ist seit längerem deutlich rückläufig. Während vor 15 Jahren noch jede und jeder Zweite freiwillige oder ehrenamtliche Arbeit zugunsten des Gemeinwohls leistete, ist es heute nur noch jeder Dritte. Eine Trendumkehr ist nicht absehbar. Auch in der Armee hat der Milizgedanke an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Erstens erfüllt nur noch rund die Hälfte der Schweizer Männer die Wehrpflicht vollständig, was die Wehrgerechtigkeit arg strapaziert. Zweitens wird der Dienst heute in jungen Jahren absolviert, die grosse Mehrheit der Armeeangehörigen ist jünger als 30 Jahre (siehe Grafik). Die meisten davon haben die Familienphase und die Karriere im Arbeitsmarkt noch vor sich. Und drittens wird die Beschränkung des militärischen Milizprinzips auf junge Männer zunehmend fragwürdig. Denn einerseits sind die Frauen in allen gesellschaftlichen Belangen auf dem Vormarsch, anderseits nimmt der Ausländeranteil in der Bevölkerung laufend zu. Bezogen auf die Kohorte von allen in der Schweiz lebenden Personen im Alter von 23 Jahren (100‘000 Menschen) gehören daher nur gut 16% der Armee an.

Hier setzt der Vorschlag von Avenir Suisse an: Mit der Umwandlung der Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht soll dem für das Selbstverständnis und das Wesen der Schweiz so wichtigen Milizprinzip Geltung und Glaubwürdigkeit verschafft werden. Selbstverständlich sind die Auswirkungen auf die Armeebestände vorgängig detailliert zu untersuchen. Im Unterschied zu einer ersatzlosen Abschaffung der Wehrpflicht ergeben sich aber viel mehr Stellhebel zur Steuerung der Armeebestände, sei dies über unterschiedliche Diensttage oder materielle Anerkennungen.

Und schliesslich bringt ein obligatorischer Bürgerdienst keine Wehrpflicht für Frauen, wie dies in den Medien verschiedentlich suggeriert wurde. Vielmehr lässt dieses Modell allen die Wahl zwischen militärischen und zivilen Tätigkeiten. Eine Erhöhung des Frauenanteils in der Armee (heute 0,6%) wäre im Sinne des Milizgedankens aber begrüssenswert.

Am letzten Wochenende fand in Österreich eine konsultative Volksbefragung zur Aussetzung der Wehrpflicht statt. Dabei stimmte eine deutliche Mehrheit für den Status Quo. Allerdings bestand die Alternative allein in einem Berufsheer. Man darf gespannt sein, in welche Richtung die von den Regierungsparteien angekündigte Reform der Wehrpflicht gehen wird.  Im Unterschied zur GSoA möchte Avenir Suisse jedenfalls nicht die Armee schwächen, sondern das Milizprinzip stärken, auch und gerade in der Armee.

Mit 44 Ideen zu zwölf Politikbereichen wollen wir einen Beitrag leisten zur Sicherung des Lebensraums und Wirtschaftsstandorts Schweiz im Morgen und Übermorgen. Sie können die Ideen auf unserer Website auch im Detail studieren: «Ideen für die Schweiz»