In meinem ersten Bildungsblog habe ich eine Lanze für die Liberalisierung der Schulwahl gebrochen und argumentiert, dass die Einkommenssegregation nicht verstärkt wird. Vielmehr trägt gerade die strikte Bindung zwischen Wohnort und Schule zur räumlichen Aufspaltung der Gesellschaft bei. Aber wozu braucht es mehr Wahlfreiheit? Um es vorwegzunehmen: Mit der Verbesserung des schulischen Leistungsniveaus sollte nicht argumentiert werden. Zwar gibt es viele Studien, die auf Basis von Pisa-Daten die Effekte von Liberalisierungen der Schulwahl analysieren. Da die unterschiedlichen Bildungserfolge in den Ländern durch unzählige Faktoren bestimmt werden, gelingt es aber kaum, schlüssige Evidenz für (oder gegen) diese These herauszufiltern.
Der zentrale Punkt ist ein anderer: Die Funktion der Volksschule als «Klammer der Gesellschaft» ist unter Stress geraten. In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es eine breite Mitte mit verwandten Werthaltungen und Lebensentwürfen. Der Mittelstand von damals war beseelt vom Glauben an den materiellen Aufstieg im gemeinsamen Lift nach oben. Seither hat sich die Gesellschaft in Milieus ausdifferenziert, die oft kaum mehr eine gemeinsame Sprache finden. Während sich urbane Avantgarden bereits in der Postwachstumsgesellschaft wähnen, bleibt das Haus im Grünen der Sehnsuchtsort ländlich-traditioneller Kreise. Hinzu kommt eine wachsende Schicht von «Expats» mit einem anderen bildungskulturellen Hintergrund.
Unter der Fragmentierung leidet der gesellschaftliche Kitt und mit ihm die Volksschule. Sie wird heute mit sehr unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert, die sie unmöglich alle erfüllen kann. Für die einen liegt die Zukunft in selbstbestimmtem freiem Lernen, andere sehen in integrativen Schulformen die Ursache allen Übels, Dritte wünschen sich gar die autoritäre Schule alten Zuschnitts zurück. Die erhoffte Klammer wird so immer mehr zum Klumpfuss. Die vom Lehrkörper beklagte «Reformitis» ist nicht zuletzt eine Folge zunehmend unvereinbarer Ansprüche. Wie so oft begegnet man einer unliebsamen Entwicklung zuerst mit «Mehr vom Gleichen», das heisst mit Symptombekämpfung. Die Bildungsverantwortlichen versuchen, die lose Klammer mit Vereinheitlichung und zentraler Lenkung wieder zu befestigen. Und man setzt darauf, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bildungsforschung in eine Art Best-Practice-Schule für alle münden und die Skeptiker am Ende überzeugt werden.
Hier liegt der grundlegende Irrtum. Wissenschaftlichkeit kommt gegen Werte letztlich nicht an. So streiten wir emotional über den Mundart-Kindergarten und die Frage, ob unseren Primarschülern zwei Frühsprachen zuzumuten seien oder nicht. Die Volksschule ist heute mehr denn je ein Politikum und keine Expertenveranstaltung. Genau dies könnte dem Lehrplan 21 zum Verhängnis werden. Wir brauchen mehr Wahlfreiheit an den Volksschulen, zusammen mit einer grösseren Vielfalt an Schulformen und pädagogischen Konzepten. Wie viele Unterschiede wir zulassen wollen, ohne das Verbindende der Schule aufzugeben, muss in einer Grundsatzdebatte geklärt werden. Wer sich dieser Diskussion verweigert, riskiert auf Dauer tatsächlich die Schwächung der Volksschule.
Dieser Artikel erschien im «Politblog» des Tages-Anzeigers am 04. August 2015.